Psalm 109 (3. + 4. November)

Als David den Psalm 109 niederschrieb befand er sich in großer Bedrängnis. Er dürfte in dieser Zeit auf der Flucht vor seinem Sohn Absalom gewesen sein, der für kurze Zeit die Königsherrschaft über Israel erlangte, ehe er seinem eigenen Jähzorn zum Opfer fiel.

In der Zeit völliger Machtlosigkeit und aller Optionen beraubt, wendet sich David an seinen Gott und fleht diesen um Hilfe, Wiederherstellung und ein hartes Urteil für den Verräter.

Man könnte nun sagen: Ja, so hat man in der Zeit des Gesetzes, in der Zeit von „Mein ist die Rache, spricht der Herr“, als frommer, gläubiger Mensch zu seinem Gott gebetet. Doch in der Apostelgeschichte macht uns Lukas darauf aufmerksam, dass dieser Psalm prophetisch sei und auf das spätere Schicksal von Judas Ischariot hinweist, der Jesus an den Hohen Rat auslieferte.

Ich glaube nicht, dass David diesen Psalm prophetisch wahrnahm, er klagte seinem Gott einfach sein Elend und das ihm widerfahrene tiefe Unrecht. Aber es zeigt deutlich, dass Propheten ihre Prophezeiungen vermutlich öfter auf aktuelle Situationen bezogen, es sich also um Interpretationen der Situation unter Einbeziehung des Wortes Gottes und daraus direkt abgeleitete Prognosen handelte – in vielen Fällen auch nur um Darstellung einer aktuellen (meist erbärmlichen) Situation in einem Bittgebet, einem Flehen um Rettung.

Aber bedeutet das dann nicht, dass an dem Vorwurf mancher Bibelkritiker, die im Alten Testament aufgefundenen Prophezeiungen und Bilder, die auf Jesus hinweisen, seien erst später, also aus der Sicht der nachösterlichen Erlebnisse ins Alten Testament hineininterpretiert worden?

Wer nicht glauben will oder kann, dem mag diese These genügen, die ganze Geschichte als religiösen Mumpitz abzutun und über Menschen, die daran glauben und sogar ihr Leben danach ausrichten mitleidig zu lachen. Wir Gläubigen stützen uns aber nicht auf einzelne Textstellen des Alten Testamentes! Unser Glaube ist eine persönliche Erfahrung mit diesem Gott, die uns zu ihm und in die Arme des Messias führte. Es ist die gespürte Hinwendung einer über uns stehenden Macht zu uns, die Präsenz eines Liebe gebenden Geistes, die uns begleitet und führt. Mit dieser Erkenntnis im Herzen erkennen wir im gesamten Alten Testament einen roten Faden, der – freilich über mehr als tausend Jahre und viele zunächst sehr verschlüsselte, später immer deutlicher hervortretende Hinweise (Prophezeiungen) – zur Erscheinung unseres Herrn auf diesem Planeten, den von alters her angekündigten Geschehnissen und dem daraus resultierenden Zeitalter der Gnade führte, in dem wir jetzt leben.

Einzelne hervorgehobene Textstellen, die besonders deutlich auf Leben und Wirken des Jesus von Nazareth hinweisen, sind nur die Sahnehäubchen auf einer, im Grunde seit Abraham, aufbauenden und zur Offenbarung des Evangeliums hinführenden Kette (meist sogar) historisch belegter Ereignisse. Die ganze Geschichte Israels ist Prophezeiung und Erfüllung der im Alten und Neuen Testament niedergeschriebenen Verheißungen über den Christus und den von ihm für uns erwirkten Friedenschluss mit Gott. Ihre mehrschichtige Bedeutung macht nur deutlich, dass alles, was in dieser Welt geschieht entweder zu Gottes Verheißungen hinführen oder eben wegführen kann. Alles, was um uns geschieht und wovon wir erfahren kann uns zusätzlich zur aktuellen Bedeutung auch Prophezeiung sein; es klebt kein Etikett darauf, das uns darauf hinweist.

Das Wissen um diese Tatsache sollte jeden Gläubigen motivieren, sein Leben achtsam und aufmerksam zu führen. Die Hinweise, die Gott uns gibt, haben kein typisches Klingelzeichen!

Psalm 109 >>