„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Jesus hat sich nie einen Kopf darüber gemacht. Wer ist er? Was ist er? Warum ist dies sein Weg, sein Schicksal? Für Jesus spielte das keine Rolle – und damit sind wir (abschließend?) schon wieder beim Thema: Jesus nahm keine der Rollen an, die wir ihm heute zuordnen oder die ihm seine Apostel, die übrigen Jünger oder die damalige, ihn umgebende Welt zuordnete.

Wir brechen uns in Formulierungen oft einen ab, wie wir diese drei: Gott, Jesus und Heiliger Geist in einen Gott zusammenfassen können, weil es doch nur einen Gott gibt. Die Kirche Christi ist sogar an der Bestimmung, wer oder was denn dieser Jesus nun genau war/ist, zerbrochen. Jesus dachte über solche Sachen nicht nach.

Wir sehen das in zahlreichen Gesprächen mit „seinem Vater“, wir sehen das in den vielen Wundern, in denen Jesus einfach Jesus war und das tat, was in dieser Situation zu tun war. Ja – und wer würde ihm das vorwerfen – er brachte am Kreuz seine Verwunderung und Enttäuschung über die empfundene Kälte, die von diesem Vater auszugehen schien in dem verzweifelten Aufschrei „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ zum Ausdruck. Ich glaube nicht, dass Jesus in dieser Situation an Psalm 22 dachte und sich erinnerte, dass er ja als Messias noch ein paar Prophezeiungen zu erfüllen hätte. Jesus war in dieser Situation als Mensch ganz allein und durch die Schmerzen und das langsam aus seinem Körper schwindende Leben einfach abgeschnitten von jeglicher Hoffnung – und wo keine Hoffnung mehr ist, da ist auch kein Gott – nicht, weil er nicht da wäre, sondern weil wir ihn in einer solchen Situation nicht mehr erreichen können. Nicht einmal Jesus konnte das. (Vergiss das theologische Gerede, dass der Vater sich vom Sohn abgewandt hätte, weil dieser ja nun für uns zur Sünde gemacht worden war. Gott erträgt die Sünde, wie sollte er sonst uns ertragen?)

Ich erinnere mich – nicht gerne, aber immer wieder – an dieses eine Jahr, an dem mein ganzes Leben in sich zu zerbrechen schien. Verwandte, die mir auf der Straße begegneten, erzählten sich untereinander, wie erschrocken sie waren, als sie mich sahen, wie sie befürchteten, ich könnte mir etwas antun. Diese Gefahr bestand nie, denn der Gedanke: ‚Hinter der nächsten Ecke könnte es besser werden und was würdest du dumm gucken, wenn du einen Schritt davor aufgegeben hättest!‘ ist tief in meine Gene eingebrannt. Doch meine Monologe mit Gott, der damals noch ein zwar existenter, aber ferner, fremder Gott war, waren ganz andere als heute. Ohne ins Detail zu gehen, sie waren weniger freundlich als der Vorwurf Jesu am Kreuz.

Kind Gottes? Nachfolger Christi? Was interessierten mich meine Rollen, wenn mein Leben den Bach runter ging! Ich war ich – und ganz offensichtlich konnte Gott damit nicht nur umgehen, er konnte damit auch besser arbeiten als mit jeder anderen Rolle, die ich ihm davor angeboten hatte. Und glaube mir: Gott arbeitet an mir! Tag für Tag. Er arbeitet auch an dir. Im Moment arbeitet er sich bei dir durch ein halbes Dutzend Rollen hindurch, um dann irgendwann zu deinem eigentlichen Kern vorzudringen. Das Kreuz, das du Tag für Tag tragen sollst, das bist du selbst. Du verbirgst es unter einer Vielzahl von Schalen, eben jenen Rollen, die dich stützen. Dein Kreuz täglich auf dich zu nehmen bedeutet, diese Schalen abzulegen und dich selbst zu (er)tragen. Denn dann wirst du feststellen, du trägst das gar nicht allein.

Jesus verbarg sich nicht hinter Rollen. Er legte alle Rollen ab nach der Taufe durch Johannes in diesen 40 Tagen in der Wüste. Der Kampf, den er dort ausfocht, ist in den Evangelien mit den drei Versuchungen nur angedeutet. Als er zurückkam, war er nur noch Jesus.

Er war hundertprozentig Mensch in seiner Zeit und in seiner Welt. Er fragte nicht, was morgen sein werde oder was von ihm erwartet würde. Jesus war Jesus.

Er ging durch das Land, dort fand er Menschen, die sich etwas mehr für seine Erkenntnisse zu interessieren schienen als die anderen. Die machte er zu seinen Jüngern, später die engsten Freunde zu seinen Aposteln (ich bin nicht einmal sicher, ob er dieses Wort gebrauchte oder ob er nicht einfach sein Verhalten zu diesen Zwölfen änderte und persönlicher wurde). Er begegnete anderen Menschen, Zerbrochenen, und richtete sie wieder auf, weil das in diesem Moment dran war. Er predigte in den Gebetshäusern, weil er spürte, dass er in diesem Moment etwas zu sagen hatte, er demolierte den Tempel in Jerusalem, weil ihm das Herz zerbrach, als er sah, wie dieses Haus des Gebets für Geschäfte missbraucht wurde, als er sah, dass Menschen ihre Beziehung zu Gott auf dem Altar des Kapitalismus (damals freilich ein unbekanntes Wort) opferten.

Manche von uns haben im Religionsunterricht einmal gelernt, dass Jesus kein Vorbild sei, wie wir Vorbilder unter den Menschen haben, denen wir nacheifern. Jesus sei Gott, den müsse man anbeten, an den müsse man glauben. Als Vorbild sei er eine Nummer zu groß für uns.

Das ist Quatsch!

Jesus ist Jesus. Wenn ich an Jesus denke, dann denke ich an den Menschen. Auch ich habe mich auf dieser Seite schon verkünstelt in Formulierungen, in denen ich Gott, Jesus und Heiligen Geist unter einen Hut bekomme … und wahrscheinlich werde ich es an geeigneten Stellen auch weiterhin tun. Doch im Alltag rede ich mit Jesus, wenn mir danach ist mit Jesus zu reden. Ich rede mit „Papa“, wenn mir danach ist. Eigenartigerweise rede ich so gut wie nie mit dem Heiligen Geist. Personen sind mir einfach angenehmer. Jesus ist eine Person und er hat auch Gott, den Vater, für uns endgültig zu einer nahbaren und nahen Person gemacht. Mit den beiden komme ich klar. „Aber da ist doch nur ein Gott!“ höre ich dich widersprechen. „Ja, da ist nur einer“, antworte ich. „Aber wenn Gott einen wie mich einsammelt, der ihn aufs übelste beschimpft hat, dann kommt er auch damit klar, wenn ich ihn mal mit Papa und mal mit Jesus anrede und dabei völlig unterschiedliche Personen im Kopf habe. Er ist schließlich allmächtig, das hat auch Vorteile.“

Rollen? Wer braucht Rollen? Jesus braucht auch keine!


Wenn der Verstand lügt ...

Rollen und Selbstfindung