Der Un-Denkbare

Der Un-Denkbare

„So hoch der Himmel über der Erde ist, / so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege / und meine Gedanken über eure Gedanken.“ (Jes 55,9)

Ein Aufflackern – das Fragment eines Gedankens. Es formt sich ein Satz, eine Aussage. Es tauchen Formulierungen weiterer Ideen auf, die sich zu einem Kontext verbinden. Doch es bleibt nicht so seriell. Gedanken zu anderen Bereichen schwirren in meinem Kopf umher, verbinden sich, sortieren sich neu; kurze Momente von Ordnung und Klarheit lösen sich sofort wieder in Chaos auf. Das ist der Punkt an dem mir klar wird, dass es wieder einen Text geben wird, denn dieses Gewirr und Gewimmel in meinem Kopf wird zunehmen, bis ich anfange zu schreiben.

Vielleicht bin ich ja einfach zu undiszipliniert beim Denken, vielleicht bin ich auch einfach ein bisschen verrückt. Doch ich stelle mir vor, dass Gott in diesen Momenten mit mir spricht, dass er gerade versucht, mir etwas aus seiner Sichtweise zu erklären, einer Sichtweise, die der meinen völlig unbekannt, unbegreiflich, unvorstellbar – für mich un-denkbar ist. Doch ist es erst einmal in meinem Kopf, setzt es sich dort fest, entwickelt sich und nimmt immer mehr meines Bewusstseins in Beschlag. Ich muss damit arbeiten, muss es aufschreiben, mit der Hilfe Gottes auf eine mir verständliche, überschaubare Ebene herunterbrechen.

Wenn ein kleines, zwangloses Hallo meines Gottes das in meinem Kopf auszulösen vermag, was mag dann erst in den Köpfen jener großen Propheten abgegangen sein, denen Gott die wirklich wichtigen Dinge erklärte?

Heute, 30. Mai 2023, war wieder so ein Tag des göttlichen „Hallo“. Ich war auf dem Michaelsberg, saß auf der ersten der auf meinem üblichen Weg üblichen Bänke, blickte in den Himmel und plötzlich war Jesaja 55, 3 in meinem Kopf. Vermutlich hatte es auch schon vorher immer wieder geflackert, aber der Aufstieg kostet Kraft und die erste Bank bietet die erste Möglichkeit zur Ruhe zu kommen und das Gewimmel bewusst wahrzunehmen. Dann, ab diesem Punkt wird der Weg einfach, denn ich bin ja schon oben, begann das Gedanken-Feuerwerk und irgendwo dazwischen die Idee zu dem neuen Foto auf der Homepage. Das Sortieren wird dieses Mal etwas länger dauern, denn die Gedanken schlugen einen weiten Bogen scheinbar unverbundener Themen und ich bin selbst am meisten gespannt, welche davon sich hier am Ende wiederfinden werden.

So hoch, so viel höher sind die Gedanken Gottes über uns in seinem Plan. Wir können sie nie ganz erfassen. Wir können Gott nie ganz erfassen. Ich habe mir angewöhnt, ihn „Papa“ zu nennen, und es fühlt sich für mich richtig an, so richtig, dass ein einfaches „Papa.“ zu einem Gebet werden kann, wenn er mich abends umfängt oder wenn er sich morgens in meine ersten Gedanken mogelt. Doch jetzt in diesem Moment ist er Coach, Lehrer, der mich führt, der mit mir dieses chaotische Gewirr aufdröselt, so dass ich erkenne, verstehe. Dabei wird es natürlich Verluste geben, doch das, was jetzt in diesem Moment wichtig ist, wird herausgearbeitet. In anderen Zeiten ist er ein Freund, der mir zur Seite steht und einfach da ist, ja, sogar eine Seilschaft, die mich schützt und hält. Dann wieder ist er mein Sehnsuchtsort, eine Vertraute, Geliebte und dann wieder jemand ganz anderes. Und immer, wenn ich für einen Moment das Gefühl habe, jetzt habe ich Gott erfasst, taucht er in einer ganz neuen Form auf. Manche würden vielleicht sagen, dass Gott sich entzieht, wenn man versucht ihn festzuhalten, doch das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich eine Seite von Gott festhalte, zeigt er mir die anderen, damit ich mich an keines meiner Bilder gewöhne. Das Mysterium im Glauben an ihn ist er selbst, denn er ist so viel mehr als wir uns vorstellen und immer mehr, als wir gerade begreifen. Wir reden vom dreifaltigen Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist, doch das – obwohl für manche schon zu viel für (den) einen Gott – ist nicht genug, wenn es um Gott geht. Eine Zeile in einem Liedtext trifft es eher:

„You are my All in All” – Du bist mein Alles in Allem!

Alles, was du denken kannst – das ist Gott. Und was du nicht denken kannst – das ist auch Gott!

Und wir streiten uns über Liturgien, Befähigung zu Weiheämtern, Begabung zu Tätigkeiten, die mit Seelsorge und Evangelisation zu tun haben. Und wir halten in Büchern und Gesetzen fest, was der richtige Glaube ist und was nicht, wie er gelebt werden darf und wie nicht. Und wir stoßen Menschen aus unserer Gemeinschaft (oder ekeln sie hinaus oder bestrafen sie mit Argwohn oder – noch schlimmer – mit Gleichgültigkeit), weil sie nicht in unser Raster des wohldefinierten Christenmenschen passen. Doch gerade dort ist Gott!

Und wir sagen ihnen: „Ihr gehört nicht zu uns. Wir haben den Auftrag über den rechten Glauben zu wachen und zu urteilen. Was ihr wollt, zerstört den wahren Glauben.“ Und Gott ruft uns zu: „Ihr Kleingläubigen, ihr engstirnigen Kleingeister! Habt ihr kein Vertrauen? Wo ist euer Glaube?“

In der Apostelgeschichte lesen wir, dass am Tag der ersten Pfingsten der Gemeinde 3000 Seelen hinzugefügt wurden. Wir lesen diesen Text seit 2000 Jahren und wir haben verstanden, dass Gott der Gemeinde diese Seelen hinzugefügt hat, nicht die Apostel, die diese Menschen bis zur völligen Erschöpfung getauft haben. Gott handelt. Er steht über uns, er passt in keine der Schubladen, die wir ihm gebaut haben; auch alle zusammen wären nicht annähernd groß genug. Wir folgen, das ist Glaube. Wir können seinem Werk nichts hinzufügen. Das ist Demut. Auch keine Lehrbücher. Auch keine Definitionen und Selbstdefinitionen. Sie mögen uns Entscheidungen eine Zeit lang einfacher machen, doch sie werden dadurch nicht Teil seines Werkes.

Irgendwann stellt er uns vor eine Situation oder einem von ihm handverlesenen Menschen gegenüber und unser mühsam über Generationen aufgebautes Regelwerk zerbirst zu Staub, denn alles, was aus dieser Welt kommt, hat einen Anfang und ein Ende. Wehe uns, wenn wir uns dann trotzdem an die von uns geschaffenen Bildnisse klammern.

Es gab seinerzeit heftige Diskussionen zwischen Paulus und den übrigen Aposteln, ob Heiden denn einfach so getauft werden dürften, auch wenn sie gar keine Juden seien. Das Pfingstereignis war offensichtlich bald danach in Vergessenheit geraten, denn die Geschichte ist eindeutig: An diesem Tag wurden nicht nur Juden getauft. Der erste Streit über Normen und Kirchenrecht kam mit Paulus, dem unzeitigen Apostel in die Gemeinde. Und sogar Paulus selbst passte von seiner Laufbahn her sicher nicht in das Raster eines Jüngers Christi. Schon damals macht Gott deutlich, dass er seiner Kirche die Menschen hinzufügt, die sie braucht – und das sind oft nicht die, die sie erwartet.

Doch Gott machte seinem Volk schon vorher klar, dass er nichts von Normen und Ritualen hält, außer dem einen Gesetz, das er ihnen am Sinai gab. Auch vom Ehrgeiz seiner Kinder, der Größte, Beste sein zu wollen, ist er nicht sonderlich angetan. Schon der erste König Israels, Saul, erfuhr dies auf drastische Weise und selbst David ist ein ums andere Mal über den eigenen Ehrgeiz gestolpert und wurde von seinem Gott zurückgepfiffen. Eifern für Gott, das ist Liebe, das ist Nachfolge, denn Gott eifert auch für uns.

Richtig schräg wurde es im Königreich Israel aber erst nach König Salomo. Das Land zerfiel, erst langsam, dann immer schneller. Wir lesen von zwei Teilen, doch das eigentliche Problem lag tiefer. Wir lesen, dass wieder die alten heidnischen Altäre errichtet wurden, dass wieder die alten Götzen angebetet wurden. Doch sicher hat nicht irgendwann ein König gesagt: ‚Wir lassen unseren alten Gott einen guten Mann sein und beten ab sofort die die alten Götter an.‘ Dem ging eine Entwicklung voraus. Der König ist nur das Symbol für das Volk. Zu allen Zeiten suchen Menschen Gott; Gott gefunden zu haben bedeutet, eine Beziehung zu ihm zu pflegen, ihn zu spüren. Das war den Israeliten sicherlich zuvor verloren gegangen, denn warum, sollten sie Steine anbeten, wenn sie den lebendigen Gott in ihrer Mitte spüren? Wie konnte das passieren? Wie kann ich Gott verlieren? Indem ich die lebendige Beziehung durch leblose Rituale und Normen ersetze. Kein Nachfolger Salomos war wohl in der Lage oder willens, mit Gott zu leben und zu reden, wie es Salomo tat (und der König steht hier nur symbolisch für das ganze Volk). Also begann man zu kopieren, was er – sichtbar – getan hatte und erklärte den Menschen: So geht Glaube.

So geht Glauben eben nicht. Solange noch Menschen lebten, die Salomo noch kannten, verbanden sie mit den Ritualen das, was sie zu dessen Lebzeiten mit diesem Gott erlebten. Sie lebten einen Glauben aus der Erinnerung. Doch das Gehirn lügt! Gehirnwissenschaftler haben das inzwischen herausgefunden. Wir erinnern und nicht an das, was wirklich geschehen ist, sondern immer nur an die aktuellste Erinnerung daran. Da passieren zwangsläufig Kopierfehler. Und irgendwann war das Gefühl nicht mehr da und die Menschen versuchten es irgendwie wiederzuerlangen. Aus dem Glauben aus der Erinnerung wird ein Glaube aus der Vorstellung von Glauben. An diesem Punkt ist die ursprüngliche Beziehung verloren, denn der Glaube nährt sich nun allein aus Kopien von Kopien. Menschen sind aber unterschiedlich, ebenso die von ihnen angebeteten Kopien. Dass Problem sind also nicht die in der Bibel beschriebenen Höhen und Altäre und auch nicht, dass sich die Israeliten den alten heidnische Göttern zugewandt hatten. Das Problem lag in der Vorstellung, dass bestimmte Rituale und Normen Ersatz für eine lebendige Beziehung zu Gott sein könnten. Die Standbilder waren das Symptom, nicht die Ursache. Ebenso die Aufteilung in ein Nord- und ein Südreich. Der Zerfall des Königreichs Israel begann, als die Beziehung zu Gott verloren ging, denn allein in Gott waren sie ein Volk. Sie sollten Gottes Priestervolk sein, doch statt Gott beteten sie die von ihnen geschaffenen Kopien an. Dass dies so war, erfahren wir später, als der Priester Hilkia die Gesetze des Moses quasi beim Aufräumen des Tempels findet. Der Priester selbst kennt die Bedeutung dieses Buches nicht mehr – und das, obwohl er doch der Hohepriester Josias ist. Wenn er das Wort Gottes nicht kennt, wonach hat er dann die ganze Zeit gepredigt und geopfert? Ganz sicher gab es Lehrbücher und Liturgien und ganz sicher war der Hohepriester sicher, den Willen Gottes zu tun, denn er führte ein Leben gemäß überlieferter Vorschriften.

Und irgendwann in dieser Zeit tauchten wie aus dem Nichts eigenartige Menschen auf, die seltsames Zeug erzählten. Von der notwendigen Abkehr vom gegenwärtigen Weg, von radikalen Änderungen und vom baldigen Ende. Doch die Menschen konnten nichts damit anfangen, denn was diese Verrückten da sagten widersprach allem, woran man glaubte! Selbst als die ersten Prophezeiungen eintrafen, glaubte man den Propheten nicht, hielt noch inbrünstiger an den überlieferten Zeremonien fest. Heiliges Buch? Es gab sicher viele heilige Bücher, eins heiliger als das andere, allesamt von weisen, heiligen Männern geschrieben. Wie könnte man sich von deren Worten abwenden, von Worten, die man zum Wort Gottes erklärt hatte? Je mehr die Visionen dieser umherwandernden Spinner Realität wurden, desto fester hielt man am eingefahrenen Weg fest, desto mehr fürchtete man sich vor jeglicher Veränderung.

Unsere Gegenwart als Volk Gottes ist eine Kopie der Chronik des Volkes Israel.

Doch Furcht ist nicht der Geist Gottes!

Wenn Jesus seinen Jüngern zuruft: „Fürchtet euch nicht!“, so ist dies nicht nur Trost, es ist eine Aufforderung. Gott gibt uns einen Geist der Wahrheit, wir können erkennen, wenn etwas falsch läuft, wenn etwas geändert werden muss – in unserer Kirche, aber natürlich auch da draußen in der Welt, denn diese Welt ist unsere Schule.

„Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen, und wer bei den kleinsten Dingen Unrecht tut, der tut es auch bei den großen. Wenn ihr nun im Umgang mit dem ungerechten Mammon nicht zuverlässig gewesen seid, wer wird euch dann das wahre Gut anvertrauen? Und wenn ihr im Umgang mit dem fremden Gut nicht zuverlässig gewesen seid, wer wird euch dann das Eure geben?“ (Lk 16, 10-12)

Die Zeit, die Welt, in der wir leben, das sind „die kleinsten Dinge“. Für Christen gibt es keine Trennung zwischen dieser und der nächsten Welt; unser Weg und alle Herausforderungen darauf führen uns zu Gott. Ein Gottesstaat also? Nein, denn Glaube und Nachfolge sind persönliche Dinge, sie lassen sich gerade nicht staatlich verordnen. Das Königreich Israel zeigt deutlich, dass das nicht funktioniert. Aber dennoch ist jedes Kind Gottes in der Lage, Richtig von Falsch zu unterscheiden, ist jedes Kind Gottes in der Lage, das jetzt Notwendige zu erkennen – in der Gemeinschaft des (neuen) Priestervolkes, aber auch ebenso in dieser Welt. Und wir haben Gott auf unserer Seite, der uns zuruft: „Fürchtet euch nicht! Geht voran, ich bin bei euch!“

Es ist an der Zeit die überlieferten Lehrbücher und Rituale zu hinterfragen. Es ist an der Zeit, wieder die lebendige Beziehung zu diesem lebendigen Gott zu leben; in den Dingen, die wir glauben, in den Dingen, um die wir beten, in den Dingen, die wir tun.

Kriege und Katastrophen – solche in der Natur ebenso, wie systematische und persönliche – verstellen uns den Blick, aktuelle und aufziehende. Sie zeigen uns, dass sich die von uns beschrittenen Wege dem Ende nähern. Und wieder tauchen eigenartige Menschen auf, erzählen seltsames Zeug von Synodalem Weg, einem allgemeinen Priestervolk aus allen Männern und Frauen, die Gott ruft, einer neuen Rolle der „allmächtigen Organisation“, Demut statt Macht, Nächstenliebe statt Normen, kurzum: dem Ende der Kirche, in der wir alle aufgewachsen sind. Ja, Gott schickt wieder Menschen, die seine Kirche braucht, nicht die, die sie gerne haben möchte. Er ist da, in den Zeiten des Umbruchs, in den Zeiten notwendiger Umkehr, hält er sich nicht zurück. Im Gegenteil, er ist laut, ruft, tobt, schreit – doch wir pfeifen im Wald, wie verängstigte Kinder, wollen seinen heiligen Sturm übertönen. Es ist alles schon einmal da gewesen!

(Geradezu analog werden die Rufe zu echten, grundlegenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Reformen lauter. Es ist, als ob Gott in beide Ohren gleichzeitig rufen würde.)

Wir müssen erkennen, keine Stimme ist bedeutungslos. Gott hat jede einzelne Seele fest in seinen Plan eingewoben. Es geht nicht nur niemand verloren, jede Seele ist ein unverzichtbares Element in dieser Schöpfung. Auch das leiseste Flüstern wird zur rechten Zeit unüberhörbar sein und was wir heute ignorieren oder gar unterdrücken, wird uns morgen überrollen. Das ist Sein Wille!

Wir haben die also die Wahl: Wir können ängstlich am Vertrauten festhalten und zusehen, wie es uns langsam zwischen den Fingern zerrinnt. Oder wir können sein Priestervolk sein, doch dann müssen wir die Angst, die uns lähmt, ablegen und mit der Angst alles, was uns zurückhält und mit Gott alles umarmen, was liebt, was wächst – was lebt. Auch wenn es uns im Moment seltsam, fremdartig erscheint. Gott zeigt uns gerade eine neue Seite von sich. Auch diese steckte die ganze Zeit in seinem Wort, wir hatten nur aufgehört danach zu suchen und uns lieber an vertrauten Kopien festgehalten. Für die Kinder Gottes ist dies eine spannende Zeit, eine Zeit des Aufbruchs und der Freude. Wer kommt mit?

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