Sinai – Der Berg der Entscheidung

„Sie sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören! Gott soll nicht mit uns reden, sonst sterben wir.“ (2. Mose 20, 19)

Irgendwie bin ich diese Ostern in revolutionärer Stimmung. Dieser Satz aus dem zweiten Buch Mose beschäftigt mich. Der Vers davor erzählt, wie es auf dem Berg donnerte und blitzte und wie Hörner laut erschallten. Das war es, was die Israeliten sahen und hörten, darum fürchteten sie sich, denn es entsprach genau dem, wie sie schon am Schilfmeer diesen Gott erlebt hatten: eine brausende und rauschende Wolken- und Feuersäule zwischen ihnen und den Ägyptern, gewaltig und gefährlich, die ein mächtiges Heer im Meer ersäuft.

Doch sie hätten die Geräusche und Zeichen auch anders interpretieren können: als Zeichen eines Gottes, der sich schützend zwischen sie und ihre Feinde wirft. Ein Gott, der sich in ihre Dienste gestellt hat, noch bevor es zum Bundesschluss kam. Ein Gott also, der deutlich machte: Dieses Volk gehört mir und wer ihnen Böses möchte, der bekommt es mit mir zu tun! Ein Gott also, vor dem sich alle fürchten mussten – alle, außer den Israeliten.

Unter diesem Blickwinkel war die Sound- und Lightshow am Sinai nur die Visitenkarte dieses Gottes gewesen. Die Israeliten hätten sich freuen können über diesen Beschützer, aber auch darüber, auf seiner Seite zu stehen. Wenn ich aber so einen mächtigen Freund habe, dann kann ich ihm doch gar nicht nahe genug sein! Anstatt „Rede du mit ihm Mose“ hätte das Volk wie mit einer Stimme rufen müssen „Gott soll mit mir reden! Ich will diesen Gott zum persönlichen Freund haben!“

Und wer weiß, vielleicht wäre dann die erste Stiftshütte (das mobile Zelt) ein gemeinsamer Grillplatz geworden und der erste Tempel in Jerusalem eine Grillhütte mit Obstbäumen und Gemüsegarten drum herum.

Aber die Israeliten entschieden sich bekanntermaßen anders. Sie wollten keinen direkten Kontakt, sie wollten Abstand zu diesem Gott und Mose als Mittler dazwischen.

Es ist natürlich klar, beim Auszug aus Ägypten war dieser Mittler notwendig. Es ist immer ein Mensch, der die Massen um sich sammelt und sie in Bewegung setzt. Aber hier am Berg Sinai konnten die Israeliten entscheiden, wie es weitergehen sollte. Und sie entschieden sich für eine konventionelle Religion. Oben Gott, und zwischen Gott und den Menschen Mose, Aaron und die Priesterschaft – als Verbindungsleute, aber auch als sichere Abstandshalter. Und Gott gab sie ihnen. Und er gab ihnen ein umfangreiches Gesetz, das die Rollen in diesem Bündnis verteilte und festlegte, wie sie es erwarteten. Er gab ihnen viele Jahre später im gelobten Land auch einen König, als sie das wollten, ebenso ließ er das Königreich nach menschlichen Maßstäben wachsen und gedeihen. Und er hielt die ganze Zeit den Abstand ein, für den sich die Israeliten am Sinai entschieden hatten.

Und Israel scheiterte mit diesem Bund. Immer wieder. Immerhin schrieben sie dieses Scheitern treu in ihren heiligen Büchern auf, so dass wir heute daraus lernen könnten.

Doch dann entschied Gott, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Zeit war reif. Er selbst wurde Mensch, mischte sich unters Volk, erzählte von einem neuen Bund, kein Vertragsbündnis, ein Bund des Heils und der Heilung, ein Bund als direkte Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf, ein Friedensbund. Er sprach zu Tausenden, zu Hunderten und zu den Einzelnen, er nahm ihnen ihre seelischen Lasten ab, er war freundlich und demütig, ein echter Kumpel eben. Es ist schwer, zu so jemandem Abstand zu halten, besonders, wenn er dir eines Abends plötzlich die Füße wäscht.

Das also stellt sich Gott vor, wenn er vom Neuen Bund spricht: Eine echte Beziehung! Ein nahbarer Gott, einer zum Anfassen und einer, der selbst berührt.

Das ist ein verlockender, ja unwiderstehlicher Bund, den dieser Gott vorschlägt, und die Botschaft darüber schlägt Wellen in der ganzen damals bekannten Welt. Wen wundert’s? Die Menschheit hatte sich über die Jahrtausende aufgespalten in Herrscher und Beherrschte, in „die da oben“ und „uns hier unten“ – aus göttlicher Sicht, der den Menschen, ALLE Menschen nach seinem Ebenbild schuf ein perverses, inakzeptables Menschenbild, das es umzustoßen galt. Und es war hierfür ein Mensch nötig, denn nur Menschen sammeln Massen und bewegen sie. Gott kommt selbst, um diesen Gegenentwurf zu dem, was sich die Menschen schufen in die Welt und unter seine Kinder zu bringen.

Es war genau die richtige Zeit.

Die Weltmacht Rom hatte die gesamte bekannte Welt mit Straßen durchzogen – das Internet jener Zeit. Zum ersten Mal war die Verbreitung der Idee technisch überhaupt möglich.

Doch dann macht Kaiser Constantin diesen andersartigen, gar nicht mehr so neuartigen Glauben zur Staatsreligion. Segen und Fluch. Segen, denn die Botschaft und Idee konnte sich nun ungefährdet im ganzen Weltreich ausbreiten. Fluch, denn als Staatsreligion war sie bald genauso hierarchisch aufgebaut, wie der Staat, der sie nun schützte. Und für die Menschen erschien das auch ganz natürlich, denn so sind sie es aus ihrer Lebenswirklichkeit gewohnt.

Oben der König, dazwischen der Hofstaat, seine Fürsten und Beamten und unten das Volk.

Oben der Papst, dazwischen der ganze geweihte Klerus mit Kardinälen, Bischöfen, Priestern und unten das Volk. Es wirkt so stimmig, das musste einfach wahr sein.

In der Stunde der Entscheidung entschieden sich die Christen genau wie damals die Israeliten. Für Mittler, zwischen Volk und Gott, für Rituale, Gesetze, feste Gebetszeiten und -texte, ja sogar für Heilige zum Anrufen für jeden Anlass. Alles geeignet, den Eindruck eines tätigen Glaubens zu vermitteln, doch gleichzeitig starr genug, den Abstand zu wahren. Zwar hatte Petrus „kurz zuvor“ noch gesagt, dass es nur noch einen Mittler zwischen Gott und den Menschen gibt und das ist Christus und dass wir alles, was wir im Leben tun zur Ehre Gottes (also, in seiner Gemeinschaft) tun sollen, aber wenn man das unbedingt möchte, kann man aus dem Wort auch eine „mittlere Führungsebene“ und fest organisierte Abläufe heraus deuten, deren strikte Einhaltung zwischen Heil und Verderben der Seele entscheidet.

Wie hätte sich das Christentum entwickelt, wenn die Christen sich damals für die Gemeinsaft spendende Fußwaschung und das nachfolgende Gemeinschaftsmahl (Abendmahl) als Triebfeder ihres Glaubens entschieden hätten und nicht für ein (himmlisches) alles überstrahlendes Königreich, größer, prächtiger und mächtiger zwar als die bekannten weltlichen Reiche, aber ganz genau nach deren Vorbild? Was wäre uns und der ganzen Welt erspart geblieben?

Wir haben heute die Kirche, die wir einst wollten und die viele unter uns heute immer noch als die einzig wahre anerkennen. Und sie scheitert vor unseren Augen, genau wie das Priestertum des Alten Bundes.

Wir hätten das besser wissen können, besser wissen müssen. Die Israeliten haben uns alles aufgeschrieben, was wir brauchten, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen.

Heute streiten wir darüber, wer denn die Priesterweihe empfangen darf und unter welchen Voraussetzungen. Wir streiten darüber, ob Rituale und Regeln von Menschen gemacht (also veränderlich) oder von Gott kommen, also unveränderlich sind. Wir schwanken zwischen Gehorsam und Aufruhr oder genauer: zwischen Gehorsam gegenüber dem geweihten Mittler (hierarchisches Modell) und Gehorsam gegenüber dem erkannten Wort (Gemeinschaftsmodell), denn Gott gibt uns einen Geist der Erkenntnis. Gott hat uns zu einem Volk von Priestern gemacht. Sollten wir daher nicht eher darüber nachdenken, ob die Weihe, also das Herausheben Einzelner aus dem Volk zu einer Kirche passt, in der sich Gott als Mensch mitten unter das Volk gemischt hat? Wie müsste eine Kirche sein, die sich der von Gott gewünschten Nähe bewusst ist und diese Nähe ihrerseits annimmt? Eine Glaubensgemeinschaft braucht Verkündigung und Bekenntnis. Die Menschen müssen hören, dass sie mit ihren Erfahrungen mit Gott nicht allein sind. Ich habe Gemeinschaft mit Gott, wir alle haben Gemeinschaft mit Gott – das zu erfahren ist Gottesdienst. Gottesdienst muss den Gläubigen Räume schaffen, diese Beziehung zu Gott immer wieder zu erneuern und zu verstärken. Rituale können dabei helfen, wenn sie zu den Menschen passen, die sie zelebrieren. So ein Ritual kann auch gesprochen oder gesungen werden, warum nicht? Doch für die persönliche Erfahrung braucht es auch Orte der Ruhe, des Innehaltens, wo ich mir das eben Erlebte bewusst mache, es zu einer bleibenden Erfahrung (Gotteserfahrung) mache. Das sind Räume, die uns die Welt da draußen, die Welt der Zeitoptimierung, des Aktivismus und anderer Ablenkungen, immer geschickter und umfassender vorenthält. In der Gemeinschaft und Nähe Gottes entstehen diese Räume neu.

„So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“ (Röm 8, 26)

Die Stille innerhalb von Gottesdiensten wird manchen verunsichern, denn Stille und Innehalten – den Geist in uns reden lassen und lauschen - erkennen wir noch nicht als tätigen Glauben und doch ist auch die Stille des Grabes zwischen Karfreitag und Ostersonntag ein wesentliches Element unseres Glaubens. Die Kraft der Israeliten formierte sich in einer rauschenden Wolken- und Feuersäule. Unsere Kraft erwächst aus der Stille des Karsamstags.

Die Beziehung zu Gott, seine Nähe bewusst erfahren ist immer noch ein Gegenentwurf zu dieser Welt – sein Gegenentwurf für uns, seine Kinder.

Hat Gott die Israeliten fallen lassen, weil sie nicht erkennen wollten? Nein. Er hat ihnen nur den Tempel weggenommen. Wer seinen Blick auf Gott gerichtet hat und nicht auf eine zu Ende gegangene Vergangenheit, für den wird die Sehnsucht nach dem (verlorenen) Tempel in Jerusalem zunehmend zu einer Sehnsucht nach Gott. Der Glaube findet jetzt in Gemeinden überall auf der Welt statt. Dort, in jeder einzelnen Gemeinde, ist heute ihr Jerusalem (auch wenn es viele vielleicht noch nicht so fühlen). Der Tempel Gottes ist in den Synagogen und in den Familien und dort wird ihnen der Messias erscheinen, wenn es an der Zeit ist. Und dann werden sie zu ihrer letzten Entscheidung aufgefordert.

Und Ähnliches gilt auch für uns Christen. Der eigentliche Glaube findet in den Gemeinden und in den Familien statt. Der Tempel Gottes ist für Christen kein geographischer Ort. Gott geht mit mir, ist in mir. Ich bin sein Tempel – genau wie jeder andere Gläubige. Darum kann mich auch keine Neuordnung irgendeiner Landkarte und keine Neuwidmung eines Gebäudes von meinem Gott trennen. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zum Judentum. Wir kennen den Messias bereits – und deshalb entscheiden wir mit jedem einzelnen Schritt, welchen Weg wir wählen. Wir entscheiden, ob wir weitergehen können oder umkehren müssen. Eine „letzte Entscheidung“ wird es für Christen jedoch nicht geben, die fiel bereits am Kreuz.

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