2. Korinther 12 + 13 (30. September – 2. Oktober)

„Meine Gnade genügt dir; denn die Kraft wird in der Schwachheit vollendet.“ (2. Kor 12,9)

Noch einmal unterstreicht Paulus das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen einem echten Apostel und einem selbsternannten: Ein Apostel ist sich seiner Schwachheit bewusst und ist in diesem Punkt Vorbild für jeden Christen. Sein Ruhm ist die Stärke des Glaubens der ihm von Gott übergebenen Gemeinde, sein Ruhm sind die Früchte, die seine Arbeit durch das Wirken des Heiligen Geistes hervorbringt. Vermutlich im Sprachgebrauch der insgeheim vorgebrachten Vorwürfe der Korinther, nennt er seine Arbeit „schlau“ und das Wirken des Heiligen Geistes eine „List“.

Was er aber tatsächlich meint, beschreibt er mit dem „Stachel“ in seinem Fleisch. Wie es scheint, war die Offenbarung, die er vor Damaskus erlebte, nicht ohne Folgen geblieben und machte sich auf schmerzliche Weise immer wieder bemerkbar. Christus hatte seine Bitte, ihm dieses Übel zu nehmen ausgeschlagen, mit dem Hinweis, er brauche diese Unversehrtheit nicht, solange seine Gnade auf ihm Ruhe.  Erst in dieser Schwäche werde die göttliche Kraft, die ihn antreibt, wirksam. Dass sich Paulus deshalb zukünftig aller Schwachheiten und Misshandlungen rühmen möchte, sollte hier dann aber bitte nicht wörtlich genommen werden.

Ein Christ strebt freilich nicht danach, misshandelt zu werden oder sich selbst zu verstümmeln und Christus verlangt das auch nicht als Zeichen tätiger Nachfolge! Ein Blick ins Mittelalter zeigt, dass diese Einsicht offensichtlich nicht zu allen Zeiten selbstverständlich war.

Schwachheit muss ich mir nicht erst zufügen. Wenn ich mein eigenes Leben objektiv durchforste, so finde ich genügend Schwachheiten, die mich viele Jahre sehr erfolgreich von dem abgehalten habe, was ich hier tue. Es war die tiefe Einsicht nötig, dass ich nichts aus eigener Kraft zu bewegen vermag, ja dass materielle, körperliche und seelische Schwachheiten, all die Wunden, die das Leben bis jetzt gerissen hatte, mir sogar das bisschen Kraft raubten, das diesem Körper ab einem gewissen Alter noch geblieben war. Mein Weg war es, diese Schwachheiten anzunehmen als Teil von mir, diesen Trümmerhaufen der ich war vor Gott hinzulegen und ihn zu bitten, diesen in seiner Liebe anzunehmen.

Gott zögerte nicht.

Ich bin ein geliebtes Kind Gottes, das sich seines Papas im Himmel und dessen Liebe rühmt und ich schäme mich dessen nicht.

Hat Gott meine Schwachheiten entfernt, mich stark und strahlend gemacht? Nein. Ich arbeite immer noch mit denselben Fähigkeiten, die ich auch davor hatte, meine diversen Zipperlein und echten Probleme bremsen mich nach wie vor so gut und so oft es ihnen möglich ist aus und doch können sie mich nicht aufhalten. Du liest in diesem Moment diesen Text und wenn es dem Geist Gottes gefällt, dann wird er in dir unter dem Eindruck dieses Textes etwas bewirken, was sonst vielleicht erst in Jahren, vielleicht niemals zutage getreten wäre. Nicht ich bin stark, Christus, der Geist und die Kraft Gottes in mir sind stark und bewirken das. Die Früchte dieser Arbeit hier sind nicht Ergebnis meiner Kraft und Anstrengung, sondern entspringen seiner Kraft, die er in mich hineingelegt hat und die ich erst annehmen konnte, als ich auch die eigene Schwachheit, die Vielzahl der Probleme, die sich im Laufe eines Lebens in einem Menschen ansammeln akzeptierte und annahm.

Und jetzt bist du dran!

Schau dich an. Wahrscheinlich ist auch dein Leben bis hier her nicht optimal gelaufen, auch du hast auf deinem Weg Wunden davongetragen. Einige davon haben Narben auf der Seele hinterlassen andere sind immer noch offen und scheinen überhaupt nicht mehr verheilen zu wollen. Du kannst dich nun mit aller verbliebenen Kraft gegen dein Schicksal stemmen, kannst Gott auffordern, diesen Stachel (diese vielen Stachel?) aus deinem Fleisch zu reißen und die Wunden zu schließen, damit du so stark sein kannst, wie dir die Menschen um dich herum erscheinen – oder doch wenigstens, damit du dich nicht mehr so schwach und ohnmächtig fühlst. Und dann wird Gott dir wahrscheinlich sagen: „Meine Gnade genügt dir!“

Dann hast du zwei Möglichkeiten:

Du kannst diesen Satz als Unverschämtheit abtun, weil du von einem allmächtigen Wesen, das sich selbst „die Liebe“ nennt etwas anderes erwartest als frommes Gerede. Dann wird dein Kampf weitergehen. Auf einem langen schmerzhaften Weg wirst du Verantwortliche – die Schuldigen – für dein Schicksal dingfest machen. Du wirst dich mühsam, Punkt für Punkt, vorankämpfen, wirst Gott und die Welt in Frage stellen (und oft genug sogar dich selbst) und dich dabei die ganze Zeit auf diese Schwachheiten konzentrieren. Sie werden zum Mittelpunkt deines Lebens, ihre Bewältigung zu einer Lebensaufgabe werden, denn hinter jedem scheinbar gelösten Problem werden eine Vielzahl neuer mitsamt neuer Schuldiger auftauchen – das irdische Leben ist nicht fair. Du wirst ein Gefangener deiner Probleme (deiner Dämonen) sein.

Oder du verstehst diesen Satz als Angebot und du nimmst diese Gnade von Herzen an. Deine Schwachheiten werden dadurch nicht verschwinden, deine Probleme werden sich nicht in Luft auflösen, aber du wirst sie als Möglichkeiten erkennen. Als Möglichkeiten, die es dir erst ermöglicht haben, diese Gnade anzunehmen und aus ihr Kraft, nicht irgendeine Kraft, die Kraft des Allmächtigen, zu schöpfen. Du wirst deine Lasten dadurch nicht abwerfen, aber mit der Zeit wirst du lernen, auf diese neue Kraft zu vertrauen, die sie (er)trägt. Du wirst in dieser Gnade die Kraft finden zu vergeben und auf diese Weise Lasten aus der Vergangenheit in Gottes Hände legen! Du wirst dich auf den Weg vor dir konzentrieren und auf Gott, der diesen Weg mit dir geht. Schließlich wirst du diese Gnade als Befreiung begreifen, die es dir erst ermöglicht hat, wirklich auf deinem Weg voranzukommen. Du musst die Probleme, die die Welt wie aus einem unerschöpflichen Kübel auf dich gekippt hat, nicht zuerst lösen, ehe dein Leben beginnen kann. Mit Gott an deiner Seite beginnt dein Leben jetzt!

„In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ (Joh 16,33)

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