Eliphas kommt in seiner dritten Rede nun mit sehr konkreten Vorwürfen gegen Hiob. Wir wissen aus den ersten Kapiteln, dass Hiob ein gottesfürchtiger Mann mit regem Opferdienst war. Wir wissen, dass er offensichtlich wohlhabend war und großes Ansehen in seiner Umwelt genoss; sein Ratschlag und Ratschluss war vermutlich viel wert bei ihm gesellschaftlich Gleichgestellten. Wir wissen auch, dass der Gott im Himmel voll des Lobes über seinen Knecht war. Wir wissen inzwischen aber auch, dass der Gott im Himmel in der Geschichte nur als Auslöser des Ereignisses fungierte; mit dem Gott, der sich aus unseren Beobachtungen nun nach und nach herauskristallisiert hat er herzlich wenig gemein. Gott und Satan in der Geschichte sind wie Hiob, seine Frau und die drei Freunde nur literarische Figuren, welche die Handlung voran treiben und so die zu vermittelnden Erkenntnisse transportieren.
Wir können daher nicht ausschließen, dass diese konkreten Vorwürfe Eliphas tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Und dann wäre der gottesfürchtige Mann in Wirklichkeit ein selbstgerechter und vermutlich recht egoistischer Zeitgenosse gewesen, der seine Frömmigkeit seiner Umwelt und dem angenommenen Gott zur Schau stellt, weil er selbst große Freude an dieser Show hat und sich in dieser Rolle gefällt. Diese Annahme passte auch sehr gut auf die ständig wiederholte Behauptung, von Gott völlig grundlos bestraft worden zu sein – die jetzige Situation widerspricht auf ganzer Linie dem bis hierhin gepflegten Selbstbild. Ein weiterer Grund, sich kein Bildnis von Gott machen zu dürfen, ist daher sicherlich, dass dieses Bildnis dazu verführt, von sich selbst ein Bild zu entwerfen, das gut und rein ist (oder das Gegenteil davon und daher nicht wert von diesem Gott beachtet zu werden) – und falsch und daher gefährlich, weil es uns von unser Suche nach Gott ablenkt, uns vortäuscht, die Suche sei bereits abgeschlossen und uns so unempfänglich für seinen Rat und seine Rettung macht.
Das sind die Fallen, von denen Eliphas in seiner ganzen Unkenntnis völlig richtig spricht. Aufrichtig oder nicht, auch der Ratschlag, den Frieden mit Gott zu suchen und daraus Segen zu gewinnen ist weise und richtig. Erstmals spricht der Freund auch nicht von dem Wissen und der Weisheit der Alten sondern von dem Ratschlag Gottes, der über den Demütigen kommt, ja, in einem Anflug von Erkenntnis verkündet Eliphas sogar das Kommen des Lichtes der Welt, das den Weg Hiobs erleuchten wird; er verkündet gar die unverdiente Vergebung der Sünden:
„Er wird [selbst] den freilassen, der nicht unschuldig ist: Durch die Reinheit deiner Hände wird er befreit werden.“ (Hiob 21, 30)
Ein unerwarteter Rollentausch zur Steigerung der Dramatik? Nein. Sowohl Hiob als auch die drei Freunde sind Kinder dieser gefallenen Welt und reden aus sich heraus auch nur die Worte der Welt. Doch wenn es ihm gefällt, dann spricht eben auch der Geist Gottes aus jedem von ihnen.
„Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht.“ (Joh 3,8)