Zweite Strophe – Hohelied 2,8 – 3,4 (15. + 16. Juli)

„Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir: / Steh auf, meine Freundin, / meine Schöne, so komm doch!“ (Hld 2, 10)

Würde man die Strophen Jahreszeiten zuordnen, so wäre die erste Strophe zwischen ausklingendem Winter und anbrechendem Frühling, die Natur erwacht; alles sehnt sich nach dem neuen Licht, strebt zum Licht. In dieser zweiten Strophe befinden wir uns zwischen Frühling und Sommer. Die zur Verbildlichung der Situation der Liebenden herangezogenen Bilder aus der Natur belegen das.

Der Geliebte ist nun schon gegenwärtig, ruft seine Freundin zu sich, die immer noch sehnend von ihm träumt, in ihren Träumen immer noch auf der Suche nach ihm ist. Wir lesen auch von Störenfrieden, von Füchsen, welche die Weinberge verwüsten. Doch die Szene klingt leicht, fast fröhlich – die Liebenden lassen sich dadurch von ihrem Spiel und Werben nicht abbringen.

„Mein Geliebter ist mein / und ich bin sein; er weidet in den Lilien.“ (Hld 2, 16)

„Kaum war ich an ihnen [den Wächtern des Königs] vorüber, / fand ich ihn, den meine Seele liebt.“ (Hld 3, 4)

Wir erkennen an diesen Worten Sulamits, dass ihre Liebe bereits tiefer zu gehen scheint als die des Königs. Sie begreift ihren Geliebten als einen Seelenverwandten, also einen Menschen, der von Natur aus Teil ihres Lebens ist. Die gegenwärtige Situation des Getrenntseins empfindet sie als unnatürlich, als eine Strafe.

Hier weichen die Empfindungen von Bräutigam und Braut in der Realität des alten Israel von der Wirklichkeit des himmlischen Liebesspiels zwischen Christus und seiner Kirche ab. Natürlich sollten wir – genau wie hier beschrieben – die Trennung als unnatürlich empfinden und uns danach sehnen, dass der Bräutigam uns ruft, doch tatsächlich beginnt das Sehnen der Menschen nach ihrem Gott erst, nachdem er uns gerufen hat. Gott erkennt als erster diese Trennung als unnatürlich. Wir nennen unseren Gott immer noch Freund, während er uns bereits Geliebte ruft. Während er sich uns bereits schenkt, sind wir meist noch lange nicht soweit zu rufen:

„Der HERR ist mein Teil!, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.“ (Klgl 3, 24)

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