Wenn der Verstand lügt…

„Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor, und der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatz seines Herzens das Böse hervor; denn wovon sein Herz voll ist, davon redet sein Mund.“ (Lk 6, 45)

Mein Verstand lügt. Bei ganz banalen Begebenheiten sehe ich das, aber es passiert auch bei vielen Dingen, die mir wirklich wichtig sind.

Wird das jetzt eine Beichte? Vielleicht.

Ich habe starke Probleme, auf mein Herz zu hören, dachte ich zumindest eine lange Zeit. Doch dann stellte ich fest, die Probleme beginnen erst dann, wenn das Herz mal für einen Moment still ist. Tatsächlich folge ich meinem Herzen. Das Herz befiehlt und der Verstand findet die Argumente dafür.

Doch wehe, das Herz schweigt einmal. Sei es, weil es grade nichts zu sagen gibt, sei es weil ich abgelenkt bin oder – und das ist das Schlimmste überhaupt – weil ich mich gerade auf Neuland begebe und das Herz sich auch erst mal sortieren muss.

Das ist die Stunde des Verstandes. Das ist die Stunde in der mir eine kalte Stimme ins Ohr flüstert: „Du bist nicht gut genug!“, „Du drängst dich auf!“, „Du bist zu ungeduldig!“, „Wenn du den nächsten Schritt tust, gibt es kein Zurück mehr und du wirst vor einem Scherbenhaufen stehen“ – DU BIST NICHT GENUG! Diese Stimme ist sehr kreativ und kennt sehr viele kluge Sätze zu praktisch jeder sich ergebenden Gelegenheit.

Und wenn sich dann mein Herz wieder meldet, dann herrscht Krieg in diesem Körper.

Das tritt in allen Bereichen meines Lebens immer wieder auf, die Hölle bricht aber los, wenn es um Freundschaften geht. Ich bin daher eher selten Besucher in der Welt der Beziehungen mit Herz auch wenn sie mir – das merke ich immer dann, wenn mal wieder eine entsteht – im Grunde meines Herzens die Welt bedeuten. Vielleicht bedeuten sie mir viel zu viel, eben weil sie so ein seltener, kostbarer Schatz in meinem Leben sind.

Und so kommt es, dass ich Begegnungen aller Art lieber aus dem Weg gehe. Es könnte sich eine Beziehung von Bedeutung ergeben. Es könnten Emotionen ins Spiel kommen. Es würde ein Krieg in meinem Körper ausbrechen. Es würden Narben und Trümmer zurück bleiben. Wo Menschen zusammenkommen, erscheine ich still und teilnahmslos, verbarrikadiere mich hinter einer Mauer von Unnahbarkeit. Wenn dann ein Mensch diese Mauer einfach ignoriert, ist das das Schönste auf der Welt, doch bald bricht der Krieg in mir los und mein Körper sendet die kalten, nüchternen Signale des Verstandes aus, während mein Herz weint. Und mein Verstand triumphiert „Alles richtig gemacht!“ Und mein Herz weint. Für das Gegenüber verwirrend und unzumutbar … erklärt mir mein Verstand.

Ich habe eben im Radio gehört, diese Form von Beziehungsstörung und Beziehungsangst (eigentlich Verlustangst) ist bei Frühchen besonders verbreitet, weil das Band zwischen Mutter und Kind vor der Zeit zerschnitten wird und, da der Säugling ja dann eine gewisse Zeit im Brutkasten bleiben muss auch nicht sofort wieder hergestellt werden kann. Auch wenn ich kein Frühchen bin, passt das. Meine Mutter wäre bei meiner Geburt beinahe gestorben und war für mich danach erst mal einige Wochen nicht erreichbar, da sie um das eigene Leben kämpfte. Ich ging also in dieser Zeit durch viele Hände, doch nicht in die meiner Mutter.

Es ist schön, das zu erkennen, aber das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass Freundschaften für mich der Himmel sind, der ohne Vorwarnung in Hölle umschlägt und wieder zurück und nochmal und nochmal.

Mein Verstand lügt. Das ist bewiesen, denn wenn mein Herz sich gegen ihn durchsetzt – wenn ich mich gegen ihn durchsetze – sind die Reaktionen der Gegenseite praktisch immer das Gegenteil von dem, wovor mein Verstand mich gewarnt hatte. Leider hilft dieses Wissen nicht, der Verstand schweigt nicht. Er schweigt niemals!

Für Menschen, die ein Leben lang gute Freundschaften pflegen, mag dies verrückt klingen – vielleicht ist es das ja auch, doch viele Menschen suchen eine Freundschaft zu Gott und diese Freundschaft kann auch hochgradig verunsichern. Es gibt so wenig echte Götter, mit denen man das von Kindesbeinen an üben kann. Natürlich gibt es viele falsche und auch Kirchen, die uns zu dem Einen bringen sollen, haben viele falsche – schlechte Kopien und Eigenkreationen – im Angebot. Da hat der Verstand leichtes Spiel, Zweifel zu säen sobald das Herz einen Moment schweigt. „Du bist nicht genug!“, „Du siehst doch, das sind alles Lügner!“, „Alle kehren deiner Glaubensgemeinschaft den Rücken! Warum du nicht, du Feigling! – Oder bist du einfach zu bequem?“ – DU BIST NICHT GENUG!

Und dein Herz schweigt in den Zeiten des Angriffes. Und Gott schweigt, während du vor Angst und Verunsicherung zitterst. Und die ganze Welt ist gegen dich. Und der Himmel ist gegen dich.

Du kennst das? Ich auch.

Probleme in Beziehungen, weil es Störungen in der frühen Bindung gab. Im Radio kam ein inzwischen 40-jähriges Frühchen zu Wort. Er konnte das Problem bis heute nicht lösen – aber handhaben. Er hat feste Strukturen in sein Leben integriert, die ihm helfen, weiterzumachen, wenn die Erde unter seinen Füßen bebt. Alles was zwischen Menschen funktioniert, ist auch in der Beziehung zwischen Mensch und Gott nützlich, denn Gott möchte ja gar keine andere Art von Beziehung als jene, die wir schon aus dem ganz normalen Leben kennen. Und entgegen des Eindrucks, den ich vielleicht mit anderen Texten auf dieser Seite schon machte: Strukturen, das können auch Rituale sein. Ein Ritual an sich ist weder gut noch schlecht. Nur die eigene Haltung dazu entscheidet über richtig oder falsch.

Ebenso ist natürlich auch die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, die dem Glaubensleben ohne eigene Anstrengung Struktur und Rituale gibt, wichtig. Es wäre falsch, von einer solchen Gemeinschaft zu erwarten, dass sie perfekt sein muss. Menschen haben Fehler, Organisationen sind von Menschen gemacht – sie haben genau dieselben Fehler wie die Menschen. Jesus konnte ein Lied davon singen! Er bezeichnete die Verantwortlichen seiner Glaubensgemeinschaft, ja sogar die ganze Glaubensgemeinschaft, der er angehörte als „böses und treuloses Geschlecht“ (Mt 16, 4). Trotzdem blieb er bis über den Tod hinaus Mitglied dieser Gemeinschaft, denn dort waren die Menschen seines Auftrags in dieser Welt. Es geht bei uns um die Menschen, die uns tragen und die wir tragen, nicht um die Organisation, die – auch wenn mancher in der Führung das nicht einsehen mag – nur ein Werkzeug ist, ein Werkzeug, das von Gott ersetzt werden wird, wenn es seinen Zweck nicht mehr erfüllt und auch nicht bereit ist, sich reparieren zu lassen. Und die Organisation einer Glaubensgemeinschaft hat nur einen Zweck: Den Menschen dabei zu helfen, den eigenen Weg zu Gott zu finden  - den eigenen Weg, nicht den von der Organisation definierten Weg.

„Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lk 17, 21)

Das Reich Gottes, also die Freundschaft zu meinem Gott, manifestiert sich in den Freundschaften zu meinen Mitmenschen, aber es ist auch schon da, in mir. Die Freundschaft zu Gott finden heißt, zu mir selbst zu finden. Oft wird der Begriff der Selbstfindung, der Selbstverwirklichung von den Kirchen verteufelt, denn Jesus sagt doch, dass wir uns selbst verleugnen sollen. Nach meinem Empfinden ist das eine Übergeneralisierung, wie die Verteufelung der Bedeutung des Sauerteigs. Der im Geist wiedergeborene Mensch hat zwei Ichs, das alte und das neue. Das Alte – diese undankbare Rolle hat im Evangelium Johannes der Täufer freiwillig angenommen, obwohl sie ihm nicht gerecht wurde – muss weniger werden, damit das Neue, das Bleibende, diesen Platz einnehmen kann. Wir müssen das alte Selbst verleugnen, um das neue Selbst zu verwirklichen. Den Weg zu Gott finden, die Freundschaft mit Gott zu pflegen, das ist Selbstverwirklichung!

Wenn eine Glaubensgemeinschaft dabei hilfreich ist, diesen Weg der Selbstverwirklichung zu gehen, dann ist sie gut, denn dieses Werkzeug erfüllt seinen Zweck, auch wenn die Menschen im Einzelnen, insbesondere jene, die aufgrund ihrer Aufgabe im Vordergrund stehen, so fehlbar sind wie alle Menschen und an ihren Fehlern festhalten wie alle Menschen. Corona und die Enthüllungen aus meiner Glaubensgemeinschaft haben meinen Umgang mit dieser Gemeinschaft definitiv verändert, doch die Menschen darin sind dadurch eher noch wichtiger geworden. Gott hat oft unorthodoxe Methoden, unsere Blicke wieder auf das Wesentliche zu lenken.

Und neben den Strukturen und Ritualen … oder besser noch davor: Höre auf dein Herz!

Dein Herz plant nicht. Dein Herz berechnet nicht. Dein Herz täuscht dich nicht. Es sagt dir, was dich in diesem Moment bewegt und es sagt dir, was du jetzt brauchst. Gehe offen damit um, in deinen Freundschaften zu Menschen aber auch in deiner Freundschaft zu Gott. Höre auf dein Herz – dein Herz lügt nicht! Dein Verstand schon.

Gebe Gott, dass ich selbst das eben Gesagte begreife und täglich umsetze!