Wenn David zu seinem Gott spricht, so geht es um persönliche Freude und Not oder Freude und Not, die Gott über das Volk Israel brachte. Wenn wir diese Psalmen lesen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Gott sich in der aktuellen Phase zwischen erstem und zweitem Erscheinen des Messias ein Volk aus allen Nationen sammelt. Dann spricht David plötzlich mitten in unsere Zeit hinein!
„Gott, du hast uns verstoßen, du hast eine Bresche in uns geschlagen, du hast uns gezürnt - wende dich uns wieder zu! Erschüttert hast du das Land und gespalten. Heile seine Risse! Denn es kam ins Wanken.“ (Ps 60, 3-4)
Selbstverständlich hat Gott uns nicht verstoßen, er hat auch sein Volk nie verstoßen; er hat es aber geschlagen, wenn es vom Weg abgewichen war. Er hat es mehr als einmal in der Welt zerstreut, nicht weil er es nicht mehr sehen mochte – er sieht zu jeder Zeit jeden – sondern, weil es an seinem äußeren Zustand den inneren, seelischen erkennen und fühlen musste. In ihrer Suche nach einer Identität in der Diaspora erkannten die Israeliten, dass Gott untrennbarer Teil dieser Identität ist und sie zuerst anfangen mussten, wieder nach diesem Gott zu suchen, um sich auf diesem Weg des Suchens schließlich selbst wiederzufinden.
Die von David genannten Bresche und Risse kennen wir auch.
Es gibt nur einen Gott und kann daher auch nur eine Kirche geben! Natürlich wird es immer regionale Unterschiede geben; wir erfahren Gott durch die uns umgebende Welt und so unterschiedlich die Regionen und Kulturen sind, so unterschiedlich ist auch die Gotteserfahrung. Dasselbe wiederholt sich durch das Voranschreiten der Zeit, denn selbstverständlich erfährt ein Mensch, der erst vor Kurzem zu Gott gefunden hat, diesen anders als jemand, der diese Erfahrung vor 50 Jahren machte und erst recht anders, als Menschen, die vor 200, 1000 oder 2000 Jahren lebten.
Wir sollten Gott für diesen geschickten Zug in seinem Plan loben und danken. Diese Vielfalt an Gotteserfahrungen ist ein schwacher Vorschatten von der Größe eines Gottes, den ein Mensch allein – ja sogar ein Volk allein – niemals erfassen können wird.
Doch anstatt in dieser Vielfalt Gott selbst zu erkennen und danach zu trachten, diese Vielfalt in unser Glaubensleben als essenziell zu integrieren, betonen wir die Unterschiede. Wir missbrauchen die Gott gewollte Vielfalt als Argument uns in unvereinbare, (mal mehr mal weniger heimlich) konkurrierende Gruppen aufzuteilen. Wir missbrauchen diese Vielfalt, um unsere Einzigartigkeit in ein Alleinstellungsmerkmal der Wahrheit umzudeuten, das alles Andersglaubende außerhalb des Lichts verortet.
„Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ (Lk 11,23)
Seit 2000 Jahren kennen wir diese Warnung Jesu und verstehen sie nicht!
Wenn wir an den einen Gott glauben, dann steht nur dieser Gott im Zentrum! Da gibt es kein „Das haben wir schon immer so gemacht und alles andere ist falsch“ (wobei zumeist schon diese Aussage falsch ist). Da gibt es keine Zeremonie, die den wahren Glauben ausdrückt und deren Änderung Gotteslästerung wäre. Da gibt es keine Ämter, die nach äußerlichen Kriterien zu vergeben sind – ja, selbst wenn Paulus einmal scheinbar was anderes behauptet haben sollte. David erfüllte nicht ein Kriterium, das ein König erfüllen sollte. Nicht einmal der weise Prophet Samuel konnte dem Ratschluss Gottes folgen, denn David war ein unbedeutender Hirtenjunge, der jüngste und kleinste in seiner Familie. Im späteren Lebenswandel des Königs David sehen wir, dass er auch als Vorbild in Lebensführung nur sehr bedingt taugte. Und doch wollte Gott David haben!
Hat denn David sein Volk wenigstens geeint? Nein, zunächst hat er es gespalten, denn da war ja noch Saul und es hat noch nie funktioniert, wenn es in einem Volk plötzlich zwei Könige gibt. In Psalm 60 beklagt David nun einen Punkt in der Entwicklung, die ihn und sein Volk in eine tiefe Sinnkrise stürzte.
„Du hast dein Volk Hartes sehen lassen; du tränktest uns mit Taumelwein. Du hast denen, die dich fürchten, ein Banner gegeben, dass sie sich erheben um der Wahrheit willen.“ (Ps 60, 5-6)
Auch die Splitter der Kirche Gottes auf diesem Planeten schauen heute Hartes und taumeln in ihren festgefahrenen Regeln und Ritualen. Wir sind keine Zierde, kein in der Welt weithin sichtbares Licht eines allgegenwärtigen Gottes; wir sind kein Vorschatten seiner Größe, sondern verlieren uns in kleingeistigen und kleingläubigen Streitereien. Und dann wundern wir uns, genau wie seinerzeit David, wenn Gott diese von uns verursachte Zersplitterung und Zerstreuung in der Welt einfach zulässt. Das (neue) Volk Gottes ist zerstreut unter den Völkern, weil es nicht mehr vereint ist unter dem einen Gott. Wir sind nicht bereit, das Leben, das wir uns in unseren Kirchenorganisationen eingerichtet haben, hinter uns zu lassen, unsere uns zu eigen gewordenen Überzeugungen abzulegen, um dem Einen nachzufolgen. Traditionen, Kirchenrecht, Hierarchien, Rituale – alles sind weltliche Krücken, mit denen wir uns dem uns Unbegreiflichen anzunähern versuchen. Sie mögen uns ja tatsächlich helfen, aber es sind Krücken.
„Ich sage dir: Steh auf, nimm dein Bett und geh in dein Haus!“ (Lk 5,24)
Christus ermächtigt uns aber, ohne Krücken zu stehen und zu gehen, denn er ist unser Weg; er ist die Tür und der einzige Schlüssel dafür. Das ist alles, was wir brauchen, alles, was wir wissen und glauben müssen, wenn wir aufbrechen. Wenn wir unsere Blicke endlich abwenden von unseren vermeintlichen Wahrheiten, die wir meinen, den anderen beibringen zu müssen, und wieder auf den einen Gott schauen, wird ER die Splitter wieder zusammenfügen.
Wenn David von Feinden spricht, so meint er die Völker im Inneren und Äußeren, die ihn umzingeln und Land und Volk unter sich aufzuteilen versuchen. Unsere Feinde sind die selbstgeschaffenen Wahrheiten, hinter denen wir uns verschanzen; die uns voneinander trennen und uns den Blick auf die eine vereinende Kraft versperren.
„Schaffe uns Hilfe in der Drangsal; Menschenhilfe ist ja nichtig! Mit Gott werden wir Gewaltiges vollbringen, und er wird unsere Feinde zertreten.“ (Ps 60, 13-14)