Über Versuchung und Versucher

„Er sprach aber zu den Jüngern: Es ist unvermeidlich, dass Anstöße [zur Sünde] kommen; wehe aber dem, durch welchen sie kommen! Es wäre für ihn besser, wenn ein großer Mühlstein um seinen Hals gelegt und er ins Meer geworfen würde, als dass er einem dieser Kleinen einen Anstoß [zur Sünde] gibt. Habt acht auf euch selbst!“ (Lk 17, 1-3)

Die Überschrift könnte auch lauten: „Über Schuld, die vergeben wird und Schuld, die nicht vergeben wird“ – Ein schwieriges Kapitel und wie geschaffen für eine Woche, in der die katholische Kirche Ablass von allen weltlichen Sünden beim (würdigen) Gräberbesuch verspricht.

Es muss uns bewusst sein, wir sind immer beides: Versuchte und Versucher.

So werden wir von der Werbeindustrie und den Köpfen dahinter ständig dazu verleitet, immer mehr zu konsumieren, obwohl wir wissen, dass unser übermäßiger Konsum die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen zerstört. Wir sind also Versuchte. Doch unser Nachgeben in dieser Versuchung ist auch schlechtes Vorbild für andere und so können wir durch unser Handeln für andere zu Versuchern werden.

Immer wieder fordern gläubige Menschen, der Krieg in der Ukraine müsste durch die Ukraine beendet werden, indem diese in Friedensverhandlungen mit Russland tritt. In der Tat ist jede Form von Gewalt Sünde, d.h., ukrainische Soldaten begehen eine Sünde, wenn sie auf russische Soldaten schießen. Auch Verteidigung ist Gewalt. Doch es gibt einen Versucher! Die Ukraine müsste sich nicht verteidigen, wenn Russland das Land nicht angegriffen hätte, wenn Putin seine Armeen nicht gegen die Ukraine in den Krieg geschickt hätte. Hier ist für den Moment also die Rollenverteilung klar. Putin ist der Versucher! Und indem der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche diesen Krieg als von Gott gutgeheißen darstellt, wird auch er zum Versucher. Sein hohes kirchliches Amt wird ihn nicht retten.

Ganz klar steckt hinter all den aufkeimenden Protesten gegen jegliche Form staatlicher Reglementierung der Wunsch nach dem, was diese Menschen unter „Freiheit“ verstehen – ein Begriff, der in einer individualisierten Gesellschaft eine neue Bedeutung erfährt und sich zunehmend in Richtung Egozentrismus verschiebt. Menschen glauben sich nicht nur im Recht, sie sehen in den mal mehr mal weniger gelungenen Versuchen diese Gesellschaft zusammenzuhalten und die Schwachen zu schützen eine Beschneidung ihrer Rechte, was sie ja auch tatsächlich sind. Hier erkennt man die Früchte einer gottlosen Welt! Der Glaube an den einen Gott schweißt die Menschheit zu einer großen Familie zusammen; das Individuum begreift sich als Teil eines größeren Ganzen. Die Gemeinschaft der Gläubigen mit ihrem Gott im Zentrum, die „Heiligen“, ist größer als die Summe ihrer Teile, Gläubige sind Teil von etwas Großem und erfahren Sinn aus dieser Gemeinschaft – deshalb sind sie auch bereit, sie zu schützen. Deshalb sind sie auch bereit, zum Wohl anderer in ihren Rechten zurückzutreten. Ohne Gott ist diese Einstellung aber rein menschlicher Ethik und damit dem Zufall unterworfen, denn als Individuum entscheide ganz allein ich, in welchem Umfang ich auf meine Mitmenschen Rücksicht nehme. Gesellschaftlicher Konsens bedarf dann immer meiner persönlichen Zustimmung – zumindest, solange es nicht Gesetz ist. Aber sind Gesetze, die mich in meiner freien Entfaltung behindern nicht selbst schon eine Zumutung und erst gültig, wenn ich persönlich mein Okay dazu gegeben habe?

Es ist diese Denkweise, die von bestimmten Gruppen gefördert und verbreitet wird. Es handelt sich um Gruppen, die begriffen haben, dass eine individualisierte Gesellschaft, in der jeder zuerst an sich denkt, leichter zu manipulieren und damit für die eigenen Ziele zu missbrauchen ist. Es scheint also klar, dass die Köpfe in diesen manipulativen Gruppen die Verführer in diesem Prozess sind. Doch so klar ist das nicht! Indem andere – sei es aus Unverständnis oder echter Sorge – das Gedankengut dieser Gruppen teilen und unterstützen, werden sie selbst zu Verführern. Du bist Verführter, wenn bestimmte Handlungen oder Äußerungen anderer dich dazu bringen, Verantwortung für das Ganze auf die Individuen, also auf „die Anderen“ abzuwälzen. Sobald du aber in Gesprächen, in sozialen Netzwerken oder durch Teilnahme an von diesen Gruppen initiierten Demonstrationen dafür eintrittst, dass andere sich ebenso egozentrisch verhalten, wirst du zum Verführer. Wenn du ohnehin nicht an Gott glaubst, ändert sich für dich dadurch nichts, denn du wirst ohnehin allein von den dynamischen Gruppenprozessen dieser Welt (an)getrieben. Wenn du dagegen an Gott glaubst, hast du ein Problem. Dein Gott formt eine große Familie und du hilfst dabei, sie zu sprengen! Hüte dich davor, dies auch noch als den Willen deines Gottes zu postulieren!

Der wesentliche Satz in den oben zitierten Bibelversen ist also der Rat Jesu: „Habt acht auf euch selbst!“

Auch in der großen Familie Gottes gibt es etwas, auf das ich selbst achten muss: Meine persönliche Haltung zu dieser Familie. Wenn etwas, das ich tue oder tun möchte, mich von dieser Familie entfernt, dann entferne ich mich von Gott. Das Innehalten und das Gebet geben hier Orientierungshilfe. Wir bewegen uns gleichzeitig in dieser Welt und im Reich Gottes. Letzteres ist für uns unbekanntes Terrain; da ist es weise, immer mal wieder stehen zu bleiben, die Karte zu studieren und auf Hinweise unseres Scouts zu achten.