Titus ist ein weiterer Schüler des Paulus. Der Apostel hat ihn auf Kreta zurück gelassen, damit er auf diesem schwierigen Pflaster Gemeinden gründet. Insofern gilt hier dasselbe, was schon für den erstem Brief an Timotheus galt: Er dient weniger als Glaubensbrief, denn als praktische Handreichung zur Gemeindegründung.
Und doch gibt es auch Unterschiede, was darauf schließen lässt, dass Titus selbstbewusster aufgetreten ist und sich besser zu behaupten wusste als Timotheus. So beschränkt sich Paulus im wesentlichen auf Charaktereigenschaften, die er – für seine Zeit selbstverständlich – entweder einem Mann oder einer Frau zuordnet. Er macht also ganz dem damaligen Rollenverständnis geschlechtsspezifische Unterschiede, obwohl die beschriebenen Charaktereigenschaften nicht geschlechtsspezifisch sind, sondern Ergebnis von Erziehung und persönlicher Haltung.
Auch hier warnt Paulus wieder vor Schwätzern und Selektierern, die Irrlehren verbreiten, von denen man sich klar distanzieren muss. Er dürfte sich dabei natürlich vor allem auf die jüdische Konkurrenz beziehen, deren Ziel es war aus jedem neu gewonnen Christen einen Juden zu machen. Offensichtlich übte das strenge Reglement dieser Religion einen großen Reiz auf alle Wiedergeborenen aus, die Mischung aus Jahrhunderte alte Traditionen, Ritualen, Gesetzen und Legenden sind Zeichen eines großen, kulturellen Reichtums und vermitteln so eine viel größere Authentizität als ein paar lose Regeln zur persönlichen Lebensführung und -haltung.
Auch wenn es heute nicht mehr um jüdische Lehren geht, so ist dieses Problem nicht aus der christlichen Welt geschafft! Die christliche Gemeinschaft zerfällt im Moment im Wesentlichen in drei Gruppen: die Konservativen, die die korrekte Glaubensausübung an den etwa 200 Jahre alten Ritualen festmachen und jede Veränderung für Ketzerei halten, die Progressiven, die diese alten Rituale durch neue (oder angenommene noch ältere) ersetzen möchten und die Gruppe dazwischen, die mit beiden Alternativen nicht so richtig warm wird.
Natürlich ist die Frage „Wie erreichen wir heute noch mit unserer Botschaft die Menschen?“ sehr wichtig. Verkündigung hat keinen Wert, wenn niemand mehr zuhört. Doch die wesentliche Frage lautet „Was ist die Botschaft?“ Paulus ermahnt Titus daher, stets in Verkündigung und praktischem Vorbild bei der Botschaft zu bleiben.
Und das ist auch die Botschaft an uns in diesem Brief.
„Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (Joh 13, 34-35)
Wir verfehlen dieses Ziel und werden eine Religion unter vielen, wenn wir Äußerlichkeiten über den eigentlichen Auftrag Christi an uns stellen. Und wir stellen Äußerlichkeiten über den eigentlichen Auftrag, wenn wir an Regeln und Ritualen festhalten, welche die Tischgemeinschaft Christi teilen bzw. deren derzeitig existierende Teilung zementieren. Jesus sah seie Jünger nie als Gründungsmitglieder einer neuen Religion (oder auch eines reformierten Judentums). Das Reich Gottes ist die Tischgemeinschaft mit dem Herrn. Sie hat ihren Ursprung in Christus und wächst mit jedem im Geist wiedergeborenen Christen, in dieser Zeit noch verborgen, im besten Fall erahnbar in der Art und Weise, wie sich Christen in dieser Welt verhalten, aber erst offenbart am Ende dieser Zeit. Wir verkennen die Größe dieser Entwicklung, wir missachten den Willen Gottes und den Auftrag Christi, wenn wir das Christentum zur „bloßen Religion“ degradieren, also an äußeren Regeln und Ritualen festhalten, ohne auch den Geist erfassen zu wollen, der uns in der Entwicklung keinen Stillstand erlaubt und stets vorantreibt.
Leben bedeutet stetiges Wachstum und Veränderung, auch und gerade das Leben von und mit Gott. Die Botschaft Christi ist Leben; sie ist das Gegenteil jeder (in Gesetzen und Ritualen erstarrten) Religion!