Richter 19 (13. Mai)

Und noch ein weiterer Aspekt des Verfalls.

Ein levitischer Mann hat eine Frau aus Bethlehem Judäa als Nebenfrau geheiratet. Diese flieht aber nach einer Liebschaft zurück zu ihrem Vater. Nach vier Monaten folgt ihr der Mann und bleibt mehrere Tage als Gast im Haus seines Schwiegervaters. Schließlich zieht er aber mit der Frau weiter und beschließt in Gibea, einer Stadt der Benjaminiter zu übernachten, doch niemand dort nimmt den Fremden auf, bis ein alter Mann des Weges kommt und ihn mitnimmt.

Die Bürger von Gibea haben aber nicht nur das Gebot der Gastfreundschaft vergessen, sie sind sogar ausgesprochen fremdenfeindlich, denn sie ziehen vor das Haus des Mannes und fordern die Herausgabe der Fremden. Der Gastgeber bietet dem Mob seine eigene Tochter zum Tausch gegen die Sicherheit seiner Gäste an. Schließlich greift der Gast in das Geschehen ein und liefert seine Nebenfrau aus, die von Angreifern schwer misshandelt und sterbend zurückgelassen wird. Derweil scheint der Ehemann im Haus friedlich zu nächtigen, denn bis zum Morgen kümmert er sich nicht um seine Frau.

Erst am Morgen, als er weiterzieht, lädt er die Frau auf einen seiner Esel und nimmt sie mit nach Hause. Dort zerstückelt er sie in zwölf Teile und sendet diese an die zwölf Stämme Israels.

Kann man noch tiefer sinken?

Wir erleben den totalen Verlust jeglicher Moral. Ein Levit nimmt sich eine Nebenfrau (so nach dem Gesetz eigentlich gar nicht vorgesehen, auch wenn sich dieser in der Region übliche Brauch wohl ziemlich schnell durchgesetzt hatte), als diese nach einem Ehebruch wegläuft, unternimmt er erst einmal vier Monate gar nichts. Die Versöhnung mit Frau und Schwiegervater scheint gelungen, aber die immer wieder aufgeschobene Entscheidung weiterzuziehen zeigt auch, dass der Mann offensichtlich willensschwach und leicht beeinflussbar ist.

Dann die Schandtat von Gibea. Hier läuft alles schief. Die Bürger sind äußerst fremdenfeindlich und sehen in jedem Menschen, der nicht aus ihrer Stadt kommt, einen unerwünschten Eindringling. Die Reaktion des alten Mannes, sein eigenes Kind im Tausch gegen die Sicherheit seiner Gäste anzubieten wirkt zumindest befremdlich. Aber offensichtlich hat er während seines langen Lebens beobachtet, wie Sitten und Moral in dieser Stadt nach und nach verschwunden waren und wusste daher, dass es kein Entkommen aus diesem Auflauf von Monstern in Menschengestalt gab.

Als nächstes erleben wir, wie der Gast seine Frau einfach an die Monster ausliefert und sich bis zum Morgen nicht mehr weiter drum kümmert – weder um den Angriff noch um seine Frau. Seine Angst oder seine Gleichgültig siegt.

Erst nachdem alles vorbei, die Frau tot und er wieder zu Hause in Sicherheit ist, entscheidet er sich entrüstet zu sein und fordert mittels Leichenschändung Gerechtigkeit von den zwölf Stämmen. Der Frau bleibt damit auch die ehrenhafte Bestattung, also der Friedenschluss mit Gott im Tod, vorenthalten. Aber in der ganzen Geschichte kommt Gott auch überhaupt nicht vor.

Alles in allem eine trostlose und ekelhafte Geschichte. Es ist in Israel eine komplett neue Gesellschaft entstanden. Jeder denkt nur noch an sich, die anderen sind nur noch Objekte zur Befriedigung der eigenen Wünsche und Freiheiten.

Freiheit? Ja, das hier Beschriebene ist die hässliche Fratze einer Freiheit, die nicht mehr auf der Verantwortung für die Gemeinschaft und vor Gott gegründet ist, sondern auf Egoismus. Jeder der hier beschriebenen Akteure ist sein eigener Gott und sein eigener Richter.

Wir lesen in dieser Geschichte von der Freiheit, die heute im Allgemeinen gemeint ist, wenn das Wort in Forderungen verwendet wird. Hier wird das heute verbreitete Verständnis von Freiheit ohne Verantwortung einfach logisch zu Ende gedacht. Und wenn wir etwas genauer in den Zustand unserer Zeit und Gesellschaft hineinsehen, stellen wir fest, wir sind bereits sehr nahe dran.

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