Auf SWR1 läuft dieser Tage (12.10.24) wieder die Abstimmung für die Top-1000-Hitparade und heute Morgen beschwerte sich eine Hörerin, dass sich in den Top 10 überhaupt nichts bewege und fragte, ob man da nicht mal was am Modus ändern könne oder solle.
Ich phantasiere jetzt mal etwas herum!
Die Hörerin hatte abgestimmt und anschließend nachgesehen, wo ihr Lieblingslied gerade in der Hitparade steht. Enttäuscht stellte sie fest: Es liegt weit abgeschlagen auf einem der hinteren dreistelligen Plätze. Also schnell die ganze Familie und alle Freunde aktiviert, auch für dieses Lied zu stimmen. Bei der nächsten Kontrolle lag dann das Lied einige wenige Plätze höher, aber nur, um dann in der Folge wieder langsam weiter nach hinten abzurutschen.
Menschen wollen zu den Siegern gehören und das ist auch ganz normal. Ich habe aber den Eindruck, Menschen können es immer schwerer ertragen, nicht zu den Siegern zu gehören. Und wenn es einfach nicht klappen will, dann sind halt die Regeln falsch.
Warum haben denn im Moment nationalistische, rassistische Gruppierungen und Parteien Hochkonjunktur?
Offiziell, weil sie einfache Antworten auf komplexe Probleme anbieten und da ist natürlich auch was dran. Indem man bestimmte Menschengruppen zum Problem macht, erspart man sich nicht nur die Analyse und spätere Bekämpfung der Ursachen, man teilt auch gleich noch eine große Gruppe in mehrere kleinere, optimalerweise untereinander verfeindete. „Teile und herrsche!“ ist eine Jahrtausende alte Strategie und sie wird immer funktionieren.
Warum?
Weil sie eine überschaubare – und damit auch leichter manipulierbare und kontrollierbare – Gruppe zu Siegern über die anderen (Gruppen) erklärt. Sie macht dich zum Sieger, nur weil du dazu gehörst. Für wen wäre das nicht verlockend?
Wie passt aber die Lehre Christi in dieses Menschenbild, die Demut, Bescheidenheit, Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer und das Zurückstellen eigner einfordert?
Der Apostel Paulus bedient sich hier einer genialen Marketing-Strategie! Er erklärt die Verlierer, die Unterdrückten und Geknechteten zu Siegern, denn in dem Leben nach diesem Leben werden alle diese „Kleinen“ die Großen sein. Und diese Verheißung lässt sich so aus der Bergpredigt ableiten, ist also durch unseren Lehrer und Hohepriester besiegelt und vereidigt.
In einer Welt, in der 90 % der Menschen, vielleicht sogar mehr, Eigentum ihrer Fürsten und Lehnsherren sind, ist der Glaube daran, der moralische Sieger zu sein, unwiderstehlich – insbesondere, wenn bereits der Versuch der Auflehnung gegen diese vermeintlich göttliche Ordnung den vorzeitigen Tod durch Hinrichtung bedeuten kann. Warte! Ertrage! Gott wird das für dich richtigstellen! Am Ende des Weges wirst du der Sieger sein!
Ein weiteres Argument pro „liebender Gott“ ist natürlich persönliche Not. In Anlehnung an ein Sprichwort könne man sagen: „Die Not kennt keine Atheisten!“ Persönliche Not bringt jeden auf die Knie. Die Psalmen sind beredtes Beispiel dafür.
Um Menschen für das Evangelium Christi zu gewinnen, sind das in der Zeit, in der es in der Welt Verbreitung fand, freilich starke Punkte. In der Neuzeit kam dann noch Autorität dazu: Der Vater als Herr über die Familie, der Fürst als Herr über die Familien in seinem Land und Gott als Herr über alle. Diese drei Säulen haben die christlichen Kirchen über die letzten zwanzig Jahrhunderte sicher getragen. Man glaubte an eine göttliche Ordnung, die sich auch durch gesellschaftliche und politische Strukturen hindurch offenbarte. Und wenn man sich in dieser Ordnung ganz unten fand, hatte man doch den Trost, im nächsten Leben – das nicht sechzig oder siebzig Jahre sondern sogar ewig dauern wird – oben zu sein.
Heute versprechen uns aber bestimmte Gruppen, dass wir es bereits in diesem Leben ganz nach oben schaffen können, wenn wir nur ihnen die Macht dazu geben, die Dinge in ihrem (und damit scheinbar in unserem) Sinne zu ordnen. Und die Medien berichten von Beispielen in denen Menschen ein Durchmarsch durch die gesellschaftlichen Schichten bis ganz nach oben gelungen ist. Die Methoden: Manipulation von Regeln und Gesetzen sowie Unterdrückung anderer Gruppen und deren Interessen.
Warum soll ich auf den Sieg in einem anderen Leben warten, wenn ich schon in diesem zu den Siegern gehören kann?
Das ist das Problem des Evangeliums in der heutigen Zeit. Es ändert nichts an meinem aktuellen Zustand! Das Evangelium, so wie es von der Kirche seit allen Zeiten verkündet wird, kann mit seinen Verheißungen den irdischen Verheißungen anderer Gruppen nicht das Wasser reichen.
Doch liegt das wirklich an der Botschaft oder liegt es an den Botschaftern?
Eins ist doch klar: An jenem verhängnisvollen Gründonnerstag (der damals noch nicht so hieß) war Jesus absolut sicher, dass er sich den Rest seines irdischen Lebens in keinem einzigen Augenblick mehr wie ein Sieger fühlen würde. Trotzdem ging er den Weg zu Ende. Man könnte nun sagen: „Natürlich! Als Messias war das sein Schicksal und er wusste ja, dass er auferstehen würde.“ Da ist sicher was dran. Doch es steckt auch eine Haltung darin, eine Haltung gegenüber der Welt und dem Leben, die er ebenfalls in der Bergpredigt erläuterte und die in der Botschaft, wie sie von seinen Botschaftern seither verkündet wird, zu kurz kommt.
„Wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!“ (Mt 5, 41)
In den Versen 38 bis 45 macht Jesus einige solcher Vorschläge, die man abschätzig als Aufforderung zu vorauseilendem Gehorsam oder Aufforderung zu Unterwürfigkeit beschreiben könnte, doch sie sind das Geheimnis der Freiheit, an die Christen ebenfalls glauben. Das Geheimnis liegt an der Haltung, mit der wir an Dinge herangehen, die uns eigentlich keine Freude machen, die wir aber aus Notwendigkeit oder sogar äußerem Zwang tun müssen.
Wenn ich gezwungen bin oder werde, etwas zu tun, dann bin ich nicht frei, denn etwas oder jemand zwingt mich, hat also Macht über mich. Wenn es mir aber gelingt, das zunächst Erzwungene in meiner Haltung zu meiner Aufgabe zu machen, bin ich absolut frei, denn ich handle selbstbestimmt. Die Brücke zwischen Unfreiheit und Freiheit ist die persönliche Haltung.
Dabei geht es natürlich nicht vorrangig um den in Vers 41 beschriebenen Dienstbotengang; dieser ist nur ein nachvollziehbares, praktisches Beispiel! Heute würde an dieser Stelle vielleicht der Arbeitsauftrag eines Vorgesetzten an mich stehen, den ich aus eigenem Antrieb mit viel größerer Sorgfalt ausführe, als dieser es von mir verlangt. Es geht um grundlegende Haltung, um grundlegendes Verhalten innerhalb der Gruppen und Gemeinschaften, in denen wir leben. Und wir sehen auch sofort: Die Botschaft des Evangeliums beginnt hier und jetzt – nicht erst im nächsten Leben!
Mit einem Minimum an eingesetzter Vernunft kann ich einsehen, dass sich mein Wohlergehen niemals vollständig von der Gruppe abkoppeln lässt, in der ich lebe. Ebenso kann ich einsehen, dass Globalisierung nichts ist, wofür oder wogegen man sich entscheiden könnte. Globalisierung ist eine Entwicklung, die sich aus dem technischen Fortschritt ergibt, der auch nichts ist, wogegen man sich entscheiden könnte – er findet auf diesem Planeten einfach statt, weil Menschen abstrakt denken können. Somit ist die Gruppe, in der ich lebe, letzten Endes die gesamte Menschheit.
Wir haben die „weißen Gewänder“, in denen die vielen Völker in der Offenbarung des Johannes vor Gott treten, als Zeichen der Reinheit interpretiert. Wir können sie auch genauso treffend als Zeichen der Einheit interpretieren. Die gesamte Menschheit ist nur EIN Volk und alle Menschen sind in den wesentlichen Dingen gleich. Welch großartige Vision von „Globalisierung“! Welch einzigartige Wahrheit!
Und plötzlich ist die Botschaft Christi gar nicht mehr altertümlich!
Ja, Sein Reich ist nicht von dieser Welt und wir können es auch nicht gründen und proklamieren. Aber wir wissen seit über 2000 Jahren, wie es funktioniert. Und wenn es für uns wahr ist und wenn wir aus diesem Reich stammen, dann funktionieren wir genauso! Der Glaube an die Wahrheit dieses Reiches und dass ich schon jetzt ein Bürger dieses Reiches bin vermag meine Haltung in den hiesigen Reichen zu ändern und die daraus resultierende Haltung macht mich frei. Der Glaube befreit mich von den Fesseln dieser Welt, nicht weil er sie verschwinden lässt, sondern weil er meine Haltung dazu zu ändern vermag!
Und dann beginnt Sein Reich plötzlich in mir und dir, hier, mitten unter uns! Es ist angebrochen, als Er es verkündet hat. Es wächst mit jedem, der es annimmt, der die Haltung eines freien Menschen des Himmelreiches annimmt.
Und trotzdem leben wir immer noch in dieser gefallenen, fehlerhaften Welt. Als Christen, als von Gott erwählte Kinder, sind wir – in Bekenntnis und Haltung – die Befreiten in einer Welt der Unfreiheit. Durch den Geist, den Gott in uns legte und uns mit auf den Weg gibt, konnten wir die Ketten sprengen und sprengen sie täglich aufs Neue. Denn wir sind täglich der Unfreiheit ausgesetzt. Wir müssen Dinge tun, die falsch sind und die auch durch „himmlische Haltung“ nicht richtig werden. Doch als Teil dieser Gemeinschaft, in der wir leben, müssen wir uns Entscheidungen fügen, weil das am Ende für die Gemeinschaft besser ist, als wenn wir uns lossagen und Widerstand leisten. Selbstverständlich gibt es auch Entscheidungen, die Widerstand erfordern. Besser ist es jedoch – soweit das möglich ist – der Gemeinschaft zu dienen und innerhalb dieses Handlungsrahmens seine Freiheit das Richtige zu tun auszuschöpfen. Und solche Freiheiten gibt es in jeder Situation. Mit dem Geist Gottes, mit dem Geist der Freiheit, kann ich in jeder Situation meine Freiheit bewahren oder wiederherstellen. Das Verhalten des Petrus im Kerker (Apostelgeschichte) belegt dies ebenso, wie das späte Leben des Paulus, nach seiner Gefangennahme und Auslieferung an Rom. Ja, selbst in der aussichtslosen Situation in der Jesus sich vor Pilatus befand, war Jesus in seiner Haltung frei!
Seid gewarnt von Leuten, die sich als eure Befreier ausgeben! Kein Mensch kann euch eine Freiheit geben, wie die, die von Gott kommt! Selbsternannte Befreier tauschen lediglich eure bisherigen Ketten durch neue aus.