Von der Freiheit und der lebendigen Seele

„Da bildete Gott der HERR den Menschen, Staub von der Erde, und blies den Odem des Lebens in seine Nase, und so wurde der Mensch eine lebendige Seele.“ (Gen 2,7 – Schlachter 2000)

In der Einheitsübersetzung wird die „lebeindige Seele“ nicht erwähnt, stattdessen macht der Odem Gottes den Menschen zu einem lebendigen Wesen. Beide Begriffe können aus dem hebräischen Original hergeleitet werden. Wenn aber Gott nun im Kapitel davor bei der Erschaffung der Tiere von „lebendigen Tieren“ spricht, so erscheint mir bei der Beschreibung des Schöpfungsaktes des Menschen – Gott bläst, anders als bei den Tieren, seinen göttlichen Atem in den Menschen – der Begriff lebendige Seele treffender, denn es gibt hier offensichtlich einen Unterschied in der Bedeutung des Begriffs „lebendig“.

Natürlich sind Menschen genauso wie Tiere und andere Geschöpfe lebendige Wesen im biologischen Sinne. Ist die Natur so beschaffen, wie auf unserem Planeten, so bringt sie irgendwann Leben hervor. Experimente mit im Reagenzglas erzeugten Bedingungen, wie sie auf der Erde kurz nach deren Erkalten in der (für uns giftigen) Uratmosphäre bestanden, führen unter Einfluss von Energie, wie sie in starken Gewittern frei wird,  zur spontanen Entstehung von Aminosäuren, den Grundbausteinen allen Lebens wie wir es kennen.

Die Schöpfung ist also so konzipiert, dass sie biologisches Leben hervorbringt, wenn die äußeren Bedingungen dafür geeignet sind. Hier braucht es keinen weiteren Willensakt Gottes. Die Schöpfung funktioniert nach seinem Willen gut. „Und Gott sah, dass es gut war“ steht am Ende jeden Schöpfungstages, nur einmal – bei der Erschaffung des Menschen – wird das Ergebnis als sehr gut bezeichnet. Es ist naheliegend anzunehmen, dass hiermit die Kombination eines von der Natur hervorgebrachten lebendigen Wesens mit der von Gott hinzugegebenen „lebendigen Seele“ gemeint ist. Der Mensch ist also ein lebendiges Wesen mit einer lebendigen Seele. Erst das, die lebendige Seele, macht ihn zu einem Wesen nach dem Bilde Gottes.

Welche Eigenschaften hat diese lebendige Seele?

Sie ist ganz offensichtlich göttlichen Ursprungs, also göttlich und somit weder (nur) männlich noch (nur) weiblich. (Für Gott ein männliches Pronomen zu verwenden, engt das Gottesverständnis ein und ich bin mir dessen bewusst, aber ein weibliches wäre nicht geeigneter und ein neutrales „es“ wäre ganz falsch, denn ein „es“ kann keine Person sein, mit der ich reden könnte. Gott will aber, dass ich mit ihm rede. Es bleibt mir also nichts weiter übrig, als mir des sprachlichen Dilemmas bewusst zu sein.) Sie ist – anders als der menschliche Körper, einschließlich der Leistungsfähigkeit des Verstandes – nicht an zeitliche Abfolgen gebunden, da sie ewig ist. Mit der Seele – oft (in Zusammenhang mit dem Heiligen Geist) als Geist bezeichnet – schauen wir den ewigen und lebendigen Gott. Während der Verstand Beweise braucht, kann die Seele glauben. Erst die lebendige Seele macht es uns möglich zu vertrauen und – im Sinne des Wortes – zu lieben, denn nur die Seele hält Kontakt zu Gott, da Gott ihr Ursprung ist; sie spricht mit ihm in unaussprechlichen Seufzern (Röm 8,26).

Es ist allein diese lebendige Seele, über die Gott uns seine Freiheit schenkt, eine Freiheit, die oft missverstanden wird.

Was Gott mit Freiheit meint, wird schon im Alten Testament deutlich, zum Beispiel, wenn er über den Propheten Jesaja sein Volk auffordert, mit ihm zu streiten:

„Kommt doch, wir wollen miteinander rechten, spricht der HERR.“ (Jes 1,18)

Gott verlangt von uns keinen Kadavergehorsam! Er will, dass wir uns mit seinen Weisungen und Ratschlägen auseinandersetzen. Die Verse davor machen zwar deutlich, dass sich durch unsere Einwände, richtig und falsch nicht ändern werden: Gott verlangt von uns, dass wir gerecht sind in seinem Sinne und gerecht sein bedeutet nach seiner Weisung Gutes zu tun, wann immer ich Gelegenheit dazu habe.

Aber Gott gibt mir das Recht, dass ich mich vor ihn stelle und sage: „Gott, ich verstehe dich nicht! Ich verstehe nicht, was du in diesem oder jenem Punkt tust (oder nicht tust), warum du von mir forderst dieses zu tun (oder zu unterlassen).“

Gott, der alleinige Herr über Leben und Tod, wird mich deswegen nicht verdammen!

Ich bin frei, mir zu den Dingen, die ich sehe und erlebe eine Meinung zu bilden und für diese einzustehen. Und Gott sagt: „Gut, aber dann sieh auch, was ich wirklich von dir erwarte und das ist leicht zu verstehen, denn Gutes zu tun ist einfach – es ist dir quasi in die Wiege gelegt.“

Was hat das nun mit meinem Alltag zu tun?

Eine eigene Meinung haben zu dürfen, die von der von oben vorgegebenen abweicht (was immer dieses „Oben“ gerade ist), ist das elementare Recht, das ich von Gott erhalten habe, als er mir eine lebendige Seele gab. Ich darf Gott widersprechen, also darf ich allen widersprechen – aber alle anderen dürfen auch mir widersprechen. Die in unserer Verfassung verankerte Meinungsfreiheit ist göttlichen Ursprungs. Wer die Meinungsfreiheit einschränkt, wer nur den Versuch unternimmt, sie einzuschränken, der erhebt sich über Gott.

Natürlich dürfen wir auch hier nicht vergessen, was Jesus über die freie Rede gesagt hat:

„Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein.“ (Mt 15,11)

Ist das, was ich sage, gerecht? Will ich mit dem, was ich sage, Gutes tun und erreichen oder suche ich nur den Vorteil für mich und die meinen?

Gerechtigkeit beginnt mit dem, was ich denke und sage. Etwas Gutes zu meinem Vorteil zu tun und dafür für andere Nachteile in Kauf zu nehmen ist nicht gut, es zu fordern ist daher auch nicht gut, es zu denken ist der Beginn der Sünde, wenn es mir nicht gelingt, schon dieses Denken zu stoppen. Solchem Denken und Handeln in geeigneter, christlicher Weise zu widerstehen ist Christenpflicht. Jesus macht den Zusammenhang zwischen Gedanken und Sünde an vielen Stellen deutlich. Der Sünde nachzugeben widerspricht dem christlichen Auftrag.

Ja, die lebendige Seele macht uns frei, denn sie löst uns aus der Zeit, macht es uns möglich, Dinge, die unser Verstand gelernt hat, im Hinblick auf den uns erteilten Auftrag zu bewerten. Wenn wir mit Gott streiten, sortieren wir unsere gesammelten Erkenntnisse, bewerten wir letzten Endes unsere zurückliegenden Entscheidungen und justieren so unseren moralischen und spirituellen Kompass für den vor uns liegenden Weg neu. In diesem Sinne sind für uns die Dinge, die uns Probleme gemacht haben, sogar wichtiger, als jene, die problemlos zu unserer vollen Zufriedenheit liefen.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss: Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Entwicklungsprozess, der nie aufhört. Freiheit bezeichnet das Wachstum der Seele.

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