…und die Unbegreiflichkeit seines Schweigens.
Die täglichen Nachrichten tun mir weh! Seelisch und körperlich. Wir sind egoistisch, brutal, menschenverachtend, hasserfüllt, gewalttätig, verlogen. Unerträglich. Sinnlos. Es ist sinnlos und unverständlich. Ich kann es nicht verstehen. Ich will es nicht verstehen. Wie kann Gott das alles zulassen?
Und dann lässt Gott mich die Geschichte der Menschheit sehen und ich erkenne: Was wir gerade treiben, hebt sich nicht von dem heraus, was wir die letzten sechs- vielleicht zigtausend Jahre getan haben, in unserem, wie in seinem Namen. Unsere aktuelle Schuld fällt unter dem Gebirgszug von Schuld überhaupt nicht auf.
Das lässt Gott mich sehen, wenn ich ihn um seine Nähe und um Trost bitte.
Aber er lässt mich auch was anderes sehen!
Er lässt mich sehen, wie der Teufel ihm sagt: „Sie haben versagt. Sie haben alle versagt. Sie sind deiner nicht würdig.“ Und dann antwortet ihm Gott: „Ich übernehme die Verantwortung. Ich trage ihre Schuld. Darum sind sie würdig.“
Und ich stelle mir vor, was dieser Gott bis heute alles zu tragen hat. Ein Mensch könnte das nicht tragen. Er würde zusammenbrechen und wäre – falls er unter der Last nicht stirbt oder doch zumindest völlig und unwiederbringlich den Verstand verliert – anschließend nicht mehr imstande irgendetwas zu fühlen.
Gott trägt es und Gott fühlt. Er liebt uns!
Und er schweigt.
Er schweigt, weil er uns liebt. Die Liebe erträgt alles, sagt der Römerbrief.
Die dort beschriebene Liebe ist größer als alles, was wir hier zwischen Menschen erleben können. Darum ist die Liebe – auch diese kleine, zu der wir Menschen imstande sind – für uns unbegreiflich. Darum ist Gottes Schweigen für uns unbegreiflich.
Ja, was Menschen tun, was Menschen einander antun, ist oft unverständlich und sinnlos. Und Gott erwartet auch nicht, dass wir es verstehen oder versuchen, einen Sinn darin zu entdecken, den es gar nicht gibt.
Er will, dass wir uns in all diesem Hass und dieser Gewalt, in all dieser Verachtung seiner Liebe bewusst sind und seiner Liebe bewusst machen, von der wir gerade dann, wenn wir all diesem Sinnlosen ausgesetzt sind, besonders abhängig sind. Ich könnte im Anblick der täglichen Nachrichten nicht leben, wenn ich mir der Liebe meines Gottes, meines Papas im Himmel, nicht bewusst wäre. Ich würde zerbrechen. Jeden Tag. Jede Stunde. Denn Gott ist mir nahe und lässt mich sehen. Ein ganz kleines Bisschen von dem, was er sieht. Und ich kann spüren, eine Spur von dem, was er fühlt. Und mein Gott lässt mich seine Nähe spüren, lässt mich seine nie endende Liebe spüren.
Und wenn ich diese Liebe in mir spüre, wenn ich mich bemühe, ihr nachzuspüren und sie schließlich spüren kann, dann beruhigt sich meine Wut, dann legt sich meine Verzweiflung, dann habe ich Frieden in mir. Und sei es nur für einen Moment. Ich habe Frieden in mir, seinen Frieden. Sein Schweigen wird mir zum Frieden. Sein Schweigen ist mir die Versicherung seiner Liebe zu mir.
Und wo seine Liebe ist, da ist kein Raum für Hass mehr, für Wut, für Verzweiflung. Und dann, nur dann!, kann ich selbst lieben in all diesem Un-Sinn.
Meine Liebe ist klein im Vergleich zur Liebe Gottes, aber sie ist in der Welt, sie kommt zu seiner Liebe hinzu. Meine Liebe wird an der Weltgeschichte und am Verhalten der Menschheit nichts verändern. Aber meine Liebe verändert die Menschen, denen ich begegne – vielleicht nur ein ganz kleines Bisschen, aber immerhin das. So beginnt das Reich Gottes. Jeden Tag.
Und dann zeigt mir Gott den Schmetterling im Amazonasbecken, der mit seinem sanften Flügelschlag im Pazifik einen Taifun auslöst oder auflöst. Kleine Dinge können in kurzer Zeit Gewaltiges verändern. Wie sehr kann mein bisschen Liebe dann Dinge beeinflussen in den Zeitspannen, die nur Gott überblickt? Für einzelne Menschen. Für viele Menschen? Gott sieht den Einzelnen. Jeder einzelne macht den Unterschied.
Ich muss das nicht überblicken. Ich muss es nicht verstehen. Ich brauche nur den Glauben an Gott, der es überblickt und der es versteht.
Und der sagt mir, dass das alles sehr gut ist (Gen 1,10).
Auch wenn ich mit meinen winzigen Augen nur das Tohuwabohu sehe.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29)