„Denn was ich bewirke, begreife ich nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse.“ (Röm 7,15)

Etwas „praktisches Christentum“.

Per Erklärung der Menschenrechte genießen alle Menschen die gleichen Rechte, zum Beispiel das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Viele Nationen haben die Menschenrechte anerkannt und sogar in ihre Verfassungen aufgenommen. Ist in diesen Ländern, zu denen auch alle Länder der Europäischen Union gehören die Behauptung des Paulus (Röm 7, 15) nicht qua Gesetz widerlegt?

Das sollte es gewisslich sein und doch erleben wir täglich, dass es anders ist.

Wir sind natürlich für den Klimaschutz, weil wir wissen, dass wir ja eigentlich nicht das Klima, sondern unsere eigene Existenz damit sichern. Doch sobald es ans eigene Verhalten geht, sehen wir das natürlich anders. Ein Park von Windrädern in der schönen Landschaft, in deren Nähe ich wohne? Natürlich sind wir vor allem dagegen, weil Vögel durch die Rotoren zu Tode und der Tourismus zum Erliegen kämen. Ein Bau von Hochspannungstrassen quer durch die Republik, um den Windstrom von der Nord- und Ostsee bis zu den Alpen zu transportieren? Sicher doch, aber doch nicht in meiner Nachbarschaft! Ein Verbot von Neuwagen mit fossilem Verbrennungsmotor? Nein, dann doch lieber „technologieoffen“, auch wenn E-Fuels für dieselbe Effizienz den fünffachen Strombedarf haben, als wenn man den Strom direkt in elektrisch angetriebenes Fahrzeug laden würde. Ein Verbot von rein fossilen Heizungsanlagen? Nein, denn andere Heiztechniken wären ja in der Anschaffung um ein Vielfaches teurer.

Natürlich gibt es zu jedem der genannten Punkte vernünftige Gründe sie abzulehnen. Andererseits ist uns aber auch klar, dass wir unser Klima und damit unsere Existenz zerstören, wenn wir nicht von den fossilen Energieträgern wegkommen, wenn wir nicht schnellstens damit aufhören, Erdöl, Erdgas und Kohle zu verbrennen (Stoffe übrigens, die für andere, z.B. medizinische Zwecke unersetzbar und deshalb eigentlich viel zu kostbar sind, um sie einfach nur zu verbrennen). Stattdessen strafen wir Politiker ab, die sich auf den schwierigen und schon längst überfälligen Weg der Transformation unserer Gesellschaft wagen und belohnen jene mit Beifall und Zustimmung, die unsere Ängste bedienen. Sind wir denn wirklich – im christlichen Sinne – frei, wenn wir jedes Mal zuverlässig unseren Ängsten nachgeben?

„Fürchtet euch nicht!“ Dieser Zuruf Jesu ist jedem Christ eigentlich in seine DNA eingraviert, aber wir hören beständig auf unsere erste Natur, die uns eifrig ins Ohr flüstert: „Das alles überfordert dich! Denke zuerst an deinen eigenen Vorteil! Das sollen andere machen!“ – Natürlich eingekleidet in viele scheinbar vernünftige Gründe.

Natürlich leben wir in dieser Welt und Kosten sind hier ein realer Faktor. Natürlich gibt es – auch infolge der in Hinsicht sozialer Gerechtigkeit über Jahrzehnte falschen Politik – eine zunehmende Anzahl Menschen, die sich vor finanziellen Herausforderungen sehen, die sie wahrscheinlich nicht selbst stemmen können. Diese Menschen muss eine sozial gerechte Gesellschaft, also eine Gesellschaft, die diesen Anspruch hat, einsammeln und mitnehmen. Das bedeutet: Menschen, die mit ihrem Tagwerk gerade mal ihre Existenz sichern können (oder teilweise nicht einmal das), können nicht noch zusätzlich mit den Transformationskosten belastet werden. Das sieht auch wieder jeder ein – bis darüber gesprochen wird, dass diese Kosten dann aber von anderen bezahlt werden müssen. „Wenn ein Mensch staatliche Transferleistungen in Anspruch nimmt, so ist er verpflichtet, der Gesellschaft seinen Anspruch zu beweisen.“ So oder so ähnlich lautet eine Forderung eines bekannten „christlichen“ und „sozialen“ Politikers – natürlich gerne auch etwas deftiger und stammtischtauglicher formuliert. Was er damit sagt, ist: Die Armen in diesem Land müssen den Reichen ihre Bedürftigkeit nachweisen und die Reichen haben das Recht, diese Bedürftigkeit generell anzuzweifeln. Wenn du arm bist und Unterstützung brauchst, dann gilt in Deutschland die Umkehrung des Schuldprinzips – dir wird zunächst einmal unterstellt, dass du lügst. Dir wird erst einmal unterstellt, dass du dir einen blauen Lenz machst und dich in die soziale Hängematte legen möchtest.

Was Politiker von diesem Schlag übersehen ist, dass alle Bürger, ja sogar alle Unternehmen und sonstigen Einrichtungen dieses Landes Transferleistungen erhalten. Der Staat stellt Infrastruktur zur Verfügung, die er – zugegebenermaßen nicht immer – ordnungsgemäß pflegt und zeitgemäß weiterentwickelt. Der Staat organisiert und finanziert die drei Staatsgewalten Legislative, Judikative und Exekutive, die die Grundlage jedes Handelns regelt und sowohl den Einzelnen als auch Gruppen und Körperschaften vor Willkür und Faustrecht schützen.

Alle Menschen hängen in und an diesem System. Wenn man das Ganze betrachtet, so sieht man, dass Freiheit in dieser Welt ein Preisschild und nichts mit Egoismus oder Willkür gemein hat.

Sozial gerecht heißt eben nicht, Geld in möglichst hohen Brotkörben zu deponieren und sich an den Verrenkungen derer zu erfreuen, die sich nach diesen Körben strecken müssen. Das ist weder sozial noch gerecht! Gerade die Schwächsten der Gesellschaft müssen bei uns um ihre Rechte kämpfen, um die Lasten für die Stärksten nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen. Wenn ein Starker beim millionenfachen Steuerbetrug ertappt wird, muss diesem dagegen natürlich zuerst einmal die Schuld zweifelsfrei bewiesen werden. Nicht er muss nachweisen, wirklich alles ordentlich versteuert zu haben, hier ist die verfassungsmäßig garantierte Unschuldsvermutung wirksam. Wäre nicht ein System gerechter, wenn jene sich gegen mögliche Ungerechtigkeiten wehren müssten, die auch wirklich dazu in der Lage sind?

Ein weiterer Punkt sind Fluchtbewegungen. Katastrophen und Kriege setzen riesige Menschenmassen in Richtung „freie, friedliche Welt“ in Bewegung. Und hier sehen wir schnell, dass soziale Gerechtigkeit nichts ist, was hinter den Außengrenzen der Europäischen Union aufhört – aufhören kann. Die menschliche Gesellschaft als solches ist ungerecht. Die Starken fressen die Schwachen. Das funktioniert so in unserer Wohlstandsgesellschaft, wo diese Ungerechtigkeit noch durch das eine oder andere soziale Feigenblatt abgemildert wird. Das schlägt stärker und schmerzhafter zu Buche, wenn eine Gesellschaft nur wenige Ressourcen zu verteilen hat. Und für bestimmte Menschen ist nicht nur Geld eine Ressource, die sie gerne anhäufen, sondern auch Macht. Nicht nur um natürliche Ressourcen und Geld, auch um Macht werden Kriege geführt. Doch ist es meist die Gier nach Geld, die das Streben nach Macht einzelner unterstützt. Und Gier ist das genaue Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit!

Es tut weh, zu sehen, wie wir täglich versagen. Wir wissen es doch tatsächlich besser! Natürlich gibt es unbelehrbare Blindgänger, die nichts sehen, hören, wissen möchten – die gab es zu allen Zeiten und die wird es immer geben.

Und wie passt dies nun alles in den Karfreitag und das bevorstehende Osterfest?

Dass es da tatsächlich einen Zusammenhang gibt, wurde mir bei meinem heutigen Karfreitagsspaziergang bewusst – oder sollte ich sagen: bewusst gemacht. Die Erkenntnis wurde inspiriert von einem Gedanken zu Karfreitag von Christina Brudereck, auf Facebook geteilt von meiner lieben Freundin Ute, was den Spruch Jesu „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind…“ auf eine ganz neue räumliche und zeitliche Ebene bringt und wieder einmal deutlich macht, Christsein funktioniert niemals allein.

Ausgereift wurde der Gedanke dann beim Spaziergang zwischen Frühstück und Mittagessen, über Michaelsberg, Kreuzweg, oberer und unterer Kappelbergweg und Neuer Weg – meiner üblichen Route, auf der mein Körper im Autopilot läuft und mein Geist daher Freigang hat.

Wir sehen in unserer aktuellen Situation: Die Welt schreit, die Menschheit schreit – es geht so nicht weiter. Ein schmerzhafter Schritt und Umbruch kommt unausweichlich näher. Auch für einen Christen ist es berechtigt, vor dem vor uns Liegenden einen gewaltigen Respekt zu haben. Doch Angst darf hier nicht unser Begleiter sein!

Gerade der Karfreitag markiert für die Freunde Gottes den wohl gewaltigsten und – zumindest für unseren Gott – schmerzhaftesten Umbruch in der Geschichte der Gottesbeziehungen. Über viele Generationen hatte Gott über sein Volk als hoher Herr, als Gesetzgeber und Vollstrecker regiert und diese Phase hatte ihre Zeit und Richtigkeit. Doch nun war diese Zeit beendet. Ein „Weiter so!“ wäre falsch gewesen. Am Kreuz macht Gott einen Schnitt. Das nun falsch Gewordene wird mit einem gewaltigen Schlag beendet – und die Evangelien verkünden es: Der Schlag war gewaltig. Und schmerzhaft!

„Siehe, ich mache alles neu!“ steht in der Offenbarung des Johannes. Unser Gott macht es uns vor. Auf dieser Welt hat alles seine Zeit, das heißt, alles – wirklich alles – was existiert, sei es materiell oder geistig, ist endlich, endet! Dies ist eine Notwendigkeit, von Gott so eingerichtet, Gott selbst richtet sich nach diesem ungeschriebenen Gesetz und wenn selbst Gott diesen Weg geht, dann gibt es für alle, die mit Gott gehen, keinen Grund Angst zu haben.

Am Ende von Karfreitag steht Ostern. Alles ist neu, fünfzig Tage später wird die neue Kirche entstehen, ca. vierzig Jahre später wird die alte Kirche von den Römern endgültig ausgelöscht werden. Genaugenommen war sie aber schon an jenem Karfreitag gestorben. Gott hatte entschieden, alles neu zu machen, weil das Alte falsch geworden war.

Die Welt schreit, die Menschheit schreit, denn vieles Alte geht gerade zu Ende und wenn wir ehrlich sind, es ist nicht das Ende das weh tut, sondern die Tatsache, dass wir uns immer noch an das Alte klammern.

Wie viele Jahre wird es dauern, bis die Welt selbst unseren Irrtum gewaltsam beendet, weil wir Angst hatten, das Notwendige zu tun?

Wie viele Jahre wird es dauern, bis unsere Kirche implodiert, weil niemand mehr da ist, da jene, die einst da waren, zu ängstlich waren, das Alte inzwischen falsch Gewordene willentlich zu beenden?

Christus spricht uns Mut zu:

„Siehe, ich bin bei euch! Ihr seid niemals allein“

„Fürchtet euch nicht! Ihr habt Grund mutig zu sein, wo andere Angst haben.“

„Geht voran, wo andere zurückschrecken! Denn ich gehe vor euch.“

„Seid standhaft! Ihr seid auf festem Grund verankert.“

„Seid barmherzig! Alles, was ihr habt und seid, habt ihr von oben erhalten.“

„Vergebt immer! Denn euch wurde zuerst vergeben.“

„Seid stark! Denn ihr werdet geliebt.“

„Liebt einander! Denn ihr werdet geliebt.“